Читать книгу Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1 - Tanja Noy - Страница 17

12. KAPITEL

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Wolf im Schafspelz

Paula von Jäckle saß inzwischen wieder in ihrer Küche. Vor ihr stand ein Glas Rotwein, das sie noch nicht angerührt hatte, und bis auf ein paar Kerzen brannte im Haus kein Licht. Immer und immer wieder legte sie die Karten, und immer und immer wieder kam dasselbe dabei heraus: Gefahr und Tod.

Paula hob das Glas an die Lippen und trank einen Schluck.

Sie ist also zurück. Und sie wird für etwas verantwortlich gemacht, was sie selbst nicht einmal ahnt. Es gibt jemanden, der ihr schaden will, und im Zentrum steht der Tod ihres Vaters vor über zwanzig Jahren. Sie weiß von all dem nichts, und diese Unwissenheit ist gefährlich. Sie muss das Rätsel lösen und hat nicht viel Zeit.

Paula seufzte leise.

Ich hätte sie bitten sollen, bei mir zu bleiben. Aber wie soll ich ihr all das beibringen? Wie soll ich ihr beibringen, was ich hier vor mir auf dem Tisch liegen sehe?

Nein, diese Frau war ein hoffnungsloser Fall. Sie würde es lächerlich nennen und sich weigern es anzunehmen.

Paula hob den Kopf und sah ihr Spiegelbild im Fenster. Bei dem Anblick zuckte sie zusammen, woraufhin sich die Konturen im Glas verdoppelten. Als sie sich wieder gefasst hatte und erleichtert im Stuhl zurücklehnte, war das Gesicht immer noch da. Und es war nicht ihr eigenes. Es war das Antlitz des Teufels.

Der Stuhl kippte um, als Paula erschrocken in die Höhe fuhr. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie blinzelte. Als sie dann das nächste Mal zum Fenster sah, war da nur die Schwärze der Nacht.

Sie legte sich die Hand aufs Herz, ging vorsichtig in Richtung Fenster und sah hinaus. Da war nichts. Zu gerne hätte sie sich eingeredet, dass sie sich den furchtbaren Anblick nur eingebildet hatte, doch sie wusste es besser.

Die Bedrohung war nahe.

Ganz nahe.

„Ich kenne Paula von Jäckle natürlich“, sagte Pastor Jordan. „Nun ja, sofern man von ‚kennen‘ sprechen kann. Keiner aus dem Dorf kennt sie wirklich. Man grüßt sich und geht dann seiner Wege. Sie ist eine nette und im Grunde sehr höfliche Frau, aber sie legt Karten und hält sich für so etwas wie ein Medium. Das macht den Leuten natürlich Angst. Durchaus verständlich, wenn man bedenkt, was Wittenrode schon alles hinter sich hat.“

„Was halten Sie persönlich von ihr?“, wollte Julia wissen.

„Ich denke, sie hat einen messerscharfen Verstand. So, und jetzt wäre ein kleines Bierchen nicht das Falscheste.“

Fast gleichzeitig sahen sie sich in dem nicht sehr großen Raum mit der niedrigen Decke um, der vier Zweier- und zwei Vierertische beherbergte und eine Theke mit einer Reihe von Stühlen, deren Sitze in der Mitte abgewetzt waren.

Köpfe waren ihnen zugewandt und es gab ein paar Begrüßungsworte, allerdings nur an Jordan gerichtet, nicht an Julia. Auf sie richteten sich lediglich Blicke, die von Neugier über Spekulation bis hin zu offener Ablehnung reichten. Julia erfasste es, registrierte es und legte es fein säuberlich in ihrem Gehirn ab. Sie zählte fünf Personen, alles Männer. Zwei saßen an der Theke, drei an einem Tisch. Ihr Blick blieb an den dreien am Tisch hängen. Einer von ihnen war kräftig gebaut und gedrungen, das musste der Bürgermeister sein, Julia erinnerte sich, sein Gesicht auf einem Wahlplakat gesehen zu haben, der Zweite hatte große rote, abstehende Ohren, ihn kannte Julia nicht, aber er sah aus wie ein Bauer, und der Dritte verfügte über auffällig markante Züge.

Dieser dritte Mann sah genau in dem Moment auf, als Julia an ihm vorbeiging. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke und etwas in der Art, wie er sie musterte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Das war ein Blick, den sie kannte. Ein Blick, den sie schon zu oft gesehen hatte. Das war der Blick eines Mannes, dessen Aggressivität unter der Oberfläche lauerte, jederzeit bereit hervorzubrechen. Jetzt zog er die Augenbrauen hoch, und die Art wie er dasaß, lässig, aber allzeit zum Angriff bereit, ließ Julia an ein ruhendes Raubtier denken. Er strahlte eine Gefahr aus, die ihr wie eine Windbö entgegenschlug.

Dann waren sie an dem Mann vorbei und trotzdem fühlte sie immer noch, wie sein durchdringender Blick in ihrem Rücken brannte.

Die Kneipentür ging ein zweites Mal auf und ein weiterer Mann kam herein. Ein großer und sehr dünner Mann. Er ließ den Blick in die Runde schweifen, und als er auf Julia fiel, verharrte er für einen Moment. Es sah aus, als könne er mit ihrem Gesicht nichts Rechtes anfangen, wüsste jedoch, dass er sie schon einmal irgendwo gesehen hatte. Dann wandte er sich ab, begab sich zur Theke und bestellte sich dort etwas zu trinken.

Pfarrer Jordan schien von all dem nichts zu bemerken. „Scheint, als seien Eva und Greger noch nicht da. Nun ja, sie kommen sicher gleich. Nehmen wir den Tisch dort drüben?“ Er deutete auf einen der Vierertische in der Ecke.

Julia nickte und folgte ihm. Am Tisch angekommen, wirkten die Stühle derart alt und mitgenommen, dass sie erst einmal argwöhnisch beobachtete, wie Jordan sich auf einen davon setzte. Als dieser nicht unter ihm zusammenbrach, nahm sie ebenfalls Platz.

Sie bestellten Bier und zwei Mal Kotelett mit Salzkartoffeln. „Hallo Paul, immer noch keine Bedienung gefunden?“, wollte Jordan vom Wirt wissen.

Der kräftige Mann mit der weißen Schürze schüttelte mürrisch den Kopf. „Kriegen Sie hier mal gutes Personal, Herr Pastor.“ Damit wandte er sich ab und schenkte den drei Männern am Nebentisch Schnaps nach.

Julia versuchte immer noch, Muskel um Muskel zu entspannen, aber ihr Blick blieb trotzdem wachsam und konzentriert. Mein Hirn läuft Amok, dachte sie bei sich. Liegt das am Stress, den ich empfinde? An der Angst, die ich vor diesem beschissenen Kaff habe?

„Fantasie ist gut für einen Polizisten“, hatte Wolfgang Lange einmal zu ihr gesagt, „aber zu viel davon kann auch schädlich sein.“

Trotzdem konnte Julia es nicht lassen. Sie warf einen weiteren verstohlenen Blick zum Nebentisch. „Was sind das für Männer?“, fragte sie. „Ich meine die drei am Nebentisch.“

„Oh, der Mann ganz links, das ist Wilhelm Raddatz, der Bürgermeister“, antwortete Jordan. „Der mit den großen Ohren, das ist Knut Hagen. Und der ganz rechts, das ist Eddie Winter. Der eine ist Bauer, dem anderen gehört die Bäckerei im Ort.“

Eddie Winter. Nun hatte Julia immerhin einen Namen zu dem Mann, dem sie von der ersten Sekunde an alles zutraute.

Jordan indessen ahnte nichts von ihren Gedanken. Er verschränkte die Hände ineinander und legte sie auf den Tisch. „Du verstehst immer noch nicht, wie man hier leben kann, nicht wahr?“ Das war eine rhetorische Frage, denn er redete sofort weiter. „Ich hingegen mochte schon immer die Schroffheit der Gegend und der Menschen. An einem Ort wie diesem beschränkt sich das Leben auf das Wesentliche. Übrigens ein ganz wunderbares Mittel gegen Selbstmitleid, man hat erst gar keine Zeit, über vieles nachzudenken. Aber natürlich wird den Menschen hier auch viel abverlangt. Ich glaube, die meisten würden selbst viel lieber in Hannover oder Hamburg oder sonst irgendwo leben, wenn da nicht die Wurzeln wären, die so tief in den Boden reichen, dass sie keine Wahl haben.“

Julia schüttelte den Kopf. „Jeder hat eine Wahl.“

„Vielleicht“, meinte Jordan. „Aber wollen nicht alle Kinder die Erwartungen ihrer Eltern erfüllen?“

„Und sind die meisten damit nicht überfordert?“

Einen Moment schwiegen sie, dann sagte Jordan: „Ich gehe nicht davon aus, dass du inzwischen verheiratet bist?“ Als er Julias Blick begegnete, einer Mischung aus Belustigung und Befremden, fügte er schnell hinzu: „Nein, natürlich nicht. Das war ja nie dein Lebensziel.“

Es folgte eine weitere Pause, in der man dem Pastor förmlich ansah, wie er darüber nachdachte, ob er die Themen Familienleben und persönliche Umstände noch weiter verfolgen sollte. Glücklicherweise kam im nächsten Moment der Wirt mit zwei Tellern und zwei Biergläsern an ihren Tisch.

Jordan senkte tief die Nase über den Teller und seufzte zufrieden auf. „Es riecht fantastisch.“

„Gut so.“ Der Wirt wandte sich an Julia. „Wo kommen Sie her? Stadt, oder?“

Sie nickte.

„War mal da.“ Naserümpfend kratzte der Wirt sich am Kopf. „In der Stadt, mein ich. Nicht meins. Voller Ausländer. Hier gibt’s keine von denen. Wollen die auch nicht hier haben.“

Julia, die sich nicht mit ihm unterhalten wollte, wandte sich demonstrativ Jordan zu. Erst als sie wieder alleine waren, meinte sie: „Mir scheint, Sie haben hier noch eine Menge zu tun, was die Nächstenliebe angeht.“

Jordan seufzte. „Ich weiß. Aber jetzt iss, Julia, sonst wird es kalt. Guten Appetit.“

Julia tat ihm den Gefallen, nahm ihr Besteck und aß ein paar Bissen, doch ihr Geschmackssinn schien eine Auszeit zu nehmen. Sie spürte die Konsistenz der Nahrung, das war aber auch schon alles. Mit Jordan an einem Tisch zu sitzen und zu essen, erinnerte sie an früher. Im Waisenhaus hatte er jeden Tag mit allen Kindern gemeinsam am Tisch gesessen, sich aber selten an irgendwelchem Geplänkel beteiligt. Er hatte einfach nur bei ihnen gesessen, gegessen und darauf geachtet, dass seine Schäfchen auch tatsächlich etwas zu sich nahmen. Nun, zumindest dazu konnte er sie heute nicht mehr zwingen. Nach einer Weile legte Julia das Besteck wieder beiseite und griff nach ihrem Bier.

Jordan sah auf. „Schmeckt es dir nicht?“

„Doch. Ich hab nur keinen Hunger.“

„Schade. Es ist köstlich. Und du solltest wirklich mehr essen, Julia. Du bist viel zu dünn. Noch dünner als damals.“

„Hmm“, machte sie, während er sich genussvoll ein weiteres Stück Kotelett in den Mund schob.

„Also, bitte erzähl von dir. Warum hast du bei der Polizei aufgehört?“

Julia sah auf. „Woher wissen Sie das?“

„Wolfgang Lange hat es mir erzählt.“

Natürlich. In Wittenrode sprach man miteinander und natürlich unterhielten sich auch Lange und der Pfarrer.

Wolfgang Lange war Julias Mentor bei der Polizei gewesen und hatte außerdem ihren Vater gut gekannt. Offenbar war er heute noch über ihren Werdegang informiert. Und das, obwohl sie sich schon ewig nicht mehr gesehen hatten.

„Sehr schade“, unterbrach Jordan ihre Gedanken. „Ich muss zugeben, dass ich diese Entscheidung für sehr bedauernswert halte.“

„Es war die richtige Entscheidung.“

„Du bereust es also nicht?“

„Nein.“

Sie schwiegen wieder einen Moment.

„Ehrlich gesagt hätte ich nicht damit gerechnet, dass du tatsächlich kommen würdest“, gestand der Pfarrer dann.

„Ich hätte es auch nicht getan, wenn es nicht um Kerstin ginge“, gab Julia zu. „Beantworten Sie mir eine Frage?“

„Natürlich.“

„Wie hat sie sich umgebracht?“

Die Linien in Jordans Gesicht vertieften sich. „Sie hat sich in ihrer Zelle erhängt. Sie muss Fürchterliches durchgemacht haben. Die ganze Geschichte ist einfach nur … tragisch. Ich bete ununterbrochen für sie.“

Wenn es hilft, dachte Julia, hob ihr Glas in Richtung Theke, und der Wirt nickte. Dann wandte sie sich wieder dem Pfarrer zu. „Gab es Anzeichen für … dafür?“

„Du meinst für den Selbstmord?“

„Nein, für den Mord an ihrem Mann.“

Jordan schüttelte den Kopf. „Ich kann mich nicht erinnern, jemals beobachtet zu haben, dass Kerstin ihm Feindseligkeit gegenüber gezeigt hätte. Ich habe auch nie mitbekommen, dass die beiden sich stritten. Nach außen hin führten sie ein ganz normales Leben, das sich nicht von dem anderer Ehepaare unterschied.“ Er brach ab, seufzte auf und fügte dann hinzu: „Aber manches köchelt lange in einem Menschen, nicht wahr? Sanft zuerst, dann immer heftiger. Und irgendwann bricht es sich Bahn. So muss es bei Kerstin gewesen sein. Ich versuche es, aber ich kann es mir nicht erklären. Beim besten Willen nicht.“

„Gibt es noch jemand anderen, der einen Grund gehabt haben könnte, Kerstins Mann zu töten?“, wandte Julia ein.

„Nein. Kerstin hat die Tat auch ohne Wenn und Aber gestanden. Sie hat es mir selbst gesagt und mir dabei in die Augen gesehen. Ich meine, wenn sie mich angelogen hätte, hätte ich das doch bemerken müssen, oder nicht?“

Vielleicht, dachte Julia, vielleicht aber auch nicht. Und bedauerte zutiefst, dass nicht sie es gewesen war, die Kerstin in den letzten Momenten ihres Lebens in die Augen gesehen hatte. „Wann war das?“, wollte sie weiter wissen. „Ich meine, wann hat sie Ihnen die Tat gestanden?“

Jordan kratzte sich am Kinn. „Einen Tag bevor sie sich das Leben nahm. Ich werde nie wieder ihren Blick vergessen. So etwas …“ Er brach ab und fluchte extrem ungeistlich: „Verdammt!“

Der unerwartete Ausbruch ließ Julia zusammenzucken.

Lächelnd griff Jordan in die Tasche seiner schwarzen Jacke. „Mein Handy vibriert. Entschuldige mich bitte.“

Er hievte sich vom Stuhl und trat ein paar Meter zur Seite. Julia sah, wie er nickend ein kurzes Gespräch führte, ohne den Blick vom Boden zu nehmen. Nach einer halben Minute kam er zu ihr an den Tisch zurück. „Sei mir nicht böse. Du weißt ja, ich habe immer zu tun. Im Waisenhaus, in der Kirche, im Ort. Überall. Ich hatte schon befürchtet, dass so etwas passieren würde, aber ich wollte doch …“ Er klimperte mit seinen Schlüsseln. „Ich komme bald wieder. Eva und Greger sind sicher jeden Moment da und ihr habt euch bestimmt viel zu erzählen. Bis später.“

Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1

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