Читать книгу Manipuliert - Teri Terry - Страница 20
ОглавлениеIch renne. So schnell ich kann, aber ich bin nie schnell genug. Unentwegt höre ich Shay: Sie ruft, ich soll ihr helfen. Ihre Stimme ist in mir, außerhalb von mir, kommt aus allen Richtungen. Der Schmerz und die Angst zerreißen mir das Herz, nur mit Mühe kann ich meinen Schrei unterdrücken.
Doch das ist nicht mal das Schlimmste.
Ich renne nicht auf Shay zu, ich renne vor ihr weg.
Ich stoße die schweißnassen Laken von mir. Die Vorhänge sind auf und die Sonne scheint durchs Fenster, ihre Strahlen haben mich wohl geweckt, zum Glück.
Mein Herz schlägt wie wild, und ich bin so erschöpft, als wäre ich wirklich die ganze Nacht gerannt. Ich setze mich auf, stelle mich ans Fenster und starre hinaus.
Der Traum lässt mich nicht los. Noch immer höre ich Shays Stimme, als wäre sie hier in meinem Kopf und würde mich um Hilfe anbetteln. Und ich fühle mich schlecht. Dabei ist sie doch gegangen. Sie hat mich ausgetrickst und zurückgelassen. Ich wollte nicht, dass sie sich ausliefert.
Aber es war meine Aufgabe, sie zu beschützen, und das habe ich nicht getan. Ich habe das Gefühl, sie trotz allem im Stich gelassen zu haben, so wie im Traum, wo ich weggerannt bin.
Wo ist Shay? In mir steigt Panik auf. Callie konnte ich nicht mehr helfen. Ich muss Shay finden, bevor ich wieder zu spät bin.
Unten höre ich was. Bobby muss aufgestanden sein. Gestern Abend bin ich hierher gefahren, habe ihm ins Haus geholfen. Nach oben wollte er nicht, nachdem er mir gesagt hat, wo das Gästezimmer ist, hat er sich aufs Sofa gehauen.
Ich gehe nach unten. Bobby macht sich gerade in der Garage zu schaffen, holt einen Karton vom Regal.
Er schaut mich kurz an und öffnet die Kiste.
»Gut geschlafen, mein Junge?«
»Nicht so toll.«
»Geträumt?«
Ich nicke.
Bobby holt einen Campingkocher aus dem Karton, der scheppernd gegen das Metallregal stößt.
Er verzieht das Gesicht, stellt den Kocher ab und reibt sich den Schädel. »Zu viel Bier. Aber wenigstens habe ich wie ein Toter geschlafen.« Aus seinem Mund klingt es, als wäre es ein begehrenswerter Zustand, den er gerne für immer herstellen wollte.
»Wir brauchen einen Plan«, sage ich. »Oder zumindest ich brauche einen.«
»Ja, aber ich brauche erst mal einen Tee.«
Ich schnappe mir den Kocher und folge Bobby in die Küche. Dort riecht es furchtbar, Kühlschrank und Gefriertruhe sind voll mit verdorbenen Lebensmitteln. Seit wann ist der Strom ausgefallen? In den Schränken finden wir ein paar Dosen Bohnen, Cracker, Tee und H-Milch.
Wir verschwinden schnell wieder aus der Küche. Bobby zündet den Kocher an, setzt Wasser auf und zaubert Becher sowie ein batteriebetriebenes Radio hervor.
Er reicht mir den Apparat. »Versuch mal dein Glück, während ich die Hausfrau spiele.«
Als ich das Radio anstelle, knistert es. Die Batterie hat nicht mehr viel Saft. Der Reihe nach gehe ich die programmierten Sender durch. Knistern. Rauschen. Nichts.
Ich schaue Bobby an, trotz allem bin ich schockiert, dass die Radiosender nichts mehr ausstrahlen.
»Richtig unheimlich«, meint Bobby. »Die gespeicherten Sender waren alles hiesige Musiksender. Vielleicht findest du noch etwas anderes.« Langsam drehe ich den Sendersuchknopf. Bobby stellt die Bohnen auf den Kocher und reicht mir einen Tee, endlich hört auch das Geknister auf und wir haben klaren Empfang. Bingo. Eine ruhige, ausgewogene Stimme ertönt – eine Frauenstimme, eine Nachrichtensprecherin der BBC, nur den Namen weiß ich nicht. Und das ist auch keine gewöhnliche Nachrichtensendung, doch ich brauche einen Moment, bevor die Bedeutung der Worte zu mir durchdringt.
… Kontakt zu Ihren Mitmenschen. Wenn Sie erkranken, bleiben Sie, wo Sie sind. Suchen Sie keinesfalls ärztliche Hilfe auf. Die Ursache der Epidemie ist unbekannt, die Krankheit kann nicht behandelt werden. Sollten Sie versuchen, die Quarantänezone zu verlassen, ist mit Schusswaffengebrauch zu rechnen.
Wenn Sie immun sind, melden Sie sich für Tests und verbindlichen Arbeitseinsatz bei den Behörden an der aktuellen Zonengrenze. Alle Überlebenden haben sich umgehend bei der Armee einzufinden. Sie stellen ein allgemeines Gesundheitsrisiko dar.
Diese Nachricht wird nun wiederholt.
Das ist eine automatische Nachricht für die Einwohner von Schottland und Nordengland. Schottland steht nördlich von Glasgow unter Quarantäne. Im Süden erstreckt sich die Quarantänezone östlich von der M74 und der A74 bis nach Penrith. Die Grenze verläuft entlang der A66 bis nach Darlington und Middlesborough. Vermeiden Sie den Kontakt zu Ihren Mitmenschen. Wenn Sie erkranken, bleiben Sie, wo Sie sind. Suchen Sie keinesfalls ärztliche Hilfe auf. Die Ursache der Epidemie ist unbekannt, die Krankheit kann nicht behandelt werden. Sollten Sie versuchen, die Quarantänezone zu verlassen, ist mit Schusswaffengebrauch zu rechnen …
Mit zitternder Hand stellt Bobby den Apparat ab.
Er sieht mich an. »Verdammte Scheiße«, sagt er.
»Heißt das … alle Leute hier …« Ich bringe es nicht über die Lippen. Sind tot?
»Klingt ganz danach. Was wollen wir jetzt machen?«
»Die Wahrheit verbreiten. Sichergehen, dass alle …«
»Alle, die noch übrig sind.«
»Ja. Jedenfalls sollen die erfahren, was hinter der Krankheit steckt. Im Radio hieß es, die Ursache sei unbekannt. Shay hat ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um die Behörden darüber zu informieren. Und wenn dieser Teil der Nachricht nie weitergegeben wurde?«
»Vielleicht ist die Radiobotschaft schon älter?«
»Glaube ich nicht. Offenbar wissen sie jetzt ja, dass Überlebende Träger sind und ein öffentliches Gesundheitsrisiko darstellen. Das wüssten sie ohne Shay auch nicht.«
»Und jetzt?«
»Ich muss ins Internet. Dafür brauche ich Strom.«
»Wir könnten zur Zonengrenze fahren, nach Glasgow vielleicht. Dazu wurden wir ja ohnehin aufgefordert.«
»Ja. Soweit ich weiß, wurde Shay aus der Quarantänezone rausgebracht. Also muss ich sie auch außerhalb suchen.«
»Abgemacht, dann fahren wir dahin.«
»Ich fahre dahin. Ich habe dir noch nicht alles gesagt. Bevor du dich entscheidest mitzukommen, solltest du mehr erfahren.«
»Schieß los.«
Also erzähle ich Bobby vom Alternativen Spezial-Regiment. Dass die Soldaten versucht haben, Shay umzubringen und mich als Geisel zu nehmen. Dass wir beide in einem Mordfall gesucht werden und illegal die Quarantänezone verlassen haben.
Bobby schaut mich konzentriert an. Nickt. »Klingt so, als bräuchtest du eine neue Identität. Und ich habe vorher auch noch was zu erledigen.«
Bobby packt ein paar Sachen zusammen: Klamotten, Lieblingsfotos, Tablet und Handy, falls wir unterwegs irgendwo Empfang haben sollten. Wir nehmen den Sportwagen, weil der mehr Sprit im Tank hat, und fahren bei Bobbys Schwester vorbei.
Die Schwester, ihr Mann und ihr Sohn sind zu Hause, für immer. Stumm und still.
Im Garten errichten wir einen Scheiterhaufen.
Was passiert bloß mit all den Häusern in der Quarantänezone? Überlässt man sie den Toten und ihren Geistern? Was geschieht mit den Leichen? Wenn sich niemand kümmert, bleiben bloß Verwesung und Verfall zurück.
Wir tun, was getan werden muss.
Danach werde ich zu Bobbys Neffen: John MacIver. Er ist siebzehn, ein Jahr jünger als ich. Da er noch nie einen Führerschein oder Pass hatte, gibt es hoffentlich auch nirgends ein offizielles Foto von ihm. In dem ganzen Tumult bekommt hoffentlich keiner mit, dass ich kein bisschen schottisch klinge.