Читать книгу Manipuliert - Teri Terry - Страница 7
ОглавлениеBitte erschieß mich nicht, bitte erschieß mich nicht, bitte …
Mein Herz schlägt so langsam, dass ich fürchte, es könnte vor lauter Angst gleich stehen bleiben.
Aber es ist eher die Zeit, die stehen bleibt. Das Blut, das mir durch die Adern schießen sollte, wartet. Über mir hängt ein Vogelschrei in der Luft, zerfällt in einzelne Töne, die sich wieder vereinen. Wenn sich das bisschen Leben, das mir noch bleibt, in diesen kleinen Dingen misst, dann sollen sie langsam vonstattengehen, so langsam wie möglich, um meine Zeit auf Erden auszudehnen.
Bitte erschieß mich nicht, bitte erschieß mich nicht …
Das Entsetzen und die Unschlüssigkeit des Soldaten arbeiten gegen mich: ein Kaleidoskop von Gefühlen, gemalt auf Wellen, ähnlich wie Schall, und Farben zeigen, wie es in diesem Moment in ihm aussieht, wie er wirklich ist. Vox hat Dr. 1 diese Gefühlsaura genannt. Und der Soldat fürchtet sich nicht nur vor der Krankheit, sondern auch vor mir. Er kämpft dagegen an, denn was er gleichzeitig sieht, ist einfach ein Mädchen, das mit ausgestreckten Händen vor ihm im Dreck kniet.
Doch wer könnte es ihm verübeln, wenn er jetzt abdrückt?
Bitte erschieß mich nicht, bitte …
Die Versuchung, seine Aura anzugreifen – seine Hände unter Kontrolle zu bringen, ihn zu Boden zu zwingen, ist groß. Aber dafür hätte ich Kai nicht zu verlassen brauchen. Ich will ja schließlich, dass mir die Verantwortlichen zuhören. Erfahren, dass Überlebende wie ich Träger sind und dass die Epidemie hier in einem unterirdischen Labor auf der Insel ihren Anfang genommen hat. Wenn ich die Wache angreife, würde mir garantiert niemand mehr Gehör schenken.
Aber vielleicht wissen die Soldaten auch Bescheid. Vielleicht ist der Stützpunkt der Royal Airforce auf den Shetlandinseln sogar Teil des Vertuschungsversuchs und es bringt alles nichts.
Bitte …
Der Soldat packt die Waffe noch fester.
Mir wird ganz schwindelig. Ich halte die Luft an, ich atme erst wieder, wenn ich weiß, was er vorhat.
In seiner Aura tut sich was, die Farben werden kräftiger: Er hat einen Entschluss gefasst.
Nach wie vor lässt er mich nicht aus den Augen, nimmt aber die Hände von der Waffe, als er sich zu seinem Funkgerät beugt.
Ich sinke zu Boden oder breche vielmehr zusammen, atme tief durch. Ich höre den Mann reden, verstehe aber nicht, was er sagt.
Sei tapfer, Shay. Sei so tapfer, wie Kai es in dieser Situation wäre.
Obwohl mein Herz wieder normal schlägt, fühlt es sich an, als würde es rasen; mein Atem geht flach und schnell. Erschöpft von dem wenigen Schlaf der letzten Tage und dem anstrengenden Nachtmarsch, lege ich mich einfach auf den Rücken und schaue in den blauen Himmel. Meine Schutzmauer steht, falls Callie mein Verschwinden schon bemerkt hat, deshalb nehme ich die Welt um mich herum auch nur gedämpft wahr.
Stattdessen konzentriere ich mich auf mich, vertiefe meinen Atem langsam wieder. Und obwohl ich Angst habe, drifte ich vor Erschöpfung in diesen seltsamen Zustand ab, der vor dem Schlaf kommt.
Weiß Kai schon, dass ich fort bin? Dass ich ihn hintergangen habe?
Vielleicht schläft er auch noch.
Ich stelle mir vor, wie er mit geschlossenen Augen daliegt, die dunklen Wimpern auf den Wangen, sanft geht sein Atem, ein zartes Lächeln umspielt die Lippen in wohligen Träumen.
Und dann taucht mein Traum-Ich auf, fährt ihm mit den Fingern durchs Haar, streichelt seine nackte Brust, spürt das Herz schlagen.
Klonk.
Ich halte inne. Was war das?
Klonk. Ein scharfes Geräusch, als würde Metall über Stein schrammen.
Ich bin verwirrt, kehre zurück ins Hier und Jetzt, zu meinem Körper am Boden.
Es sind Schritte. Jemand kommt.
Ich verdränge die Müdigkeit und setze mich auf.
Zwei Männer und eine Frau, von Kopf bis Fuß in Schutzanzüge gekleidet, nähern sich mir. Hinrichtungskommando oder Begrüßungskomitee? Durch die Schutzanzüge nehme ich sie nur diffus wahr, ihre Auren sind zwar vorhanden, aber wie abgeschnürt.
Die Frau macht den Anfang.
»Guten Morgen. Ich bin Dr. Morgan. Und wer bist du?«
»Shay McAllister.«
»Unserem Wachposten hast du erzählt, dass du eine Überlebende der Aberdeen-Grippe bist. Und eine Trägerin.«
»Ja, das stimmt.«
»Woher weißt du, dass du die Krankheit überträgst?«
»Überall, wo ich gewesen bin, ist die Krankheit ausgebrochen. Ich hatte keine Ahnung, mir ist das erst hinterher klar geworden. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen auf einer Karte, wo ich wann gewesen bin, dann können Sie sich selbst ein Urteil bilden.«
Die Frau hört zu, nickt. Hinter dem durchsichtigen Visier kann ich ihre Züge ausmachen, die nichts preisgeben, doch ihre Aura verrät sie. Die Soldaten haben es gewusst oder zumindest geahnt.
»Was willst du hier auf den Shetlandinseln?«
»Den Ursprung der Epidemie zurückverfolgen. Die Krankheit stammt nicht aus Aberdeen. Hier unter der Erde hat alles angefangen.«
Die Soldaten sehen sich an. Der Gedanke an etwas Unterirdisches scheint sie zu ängstigen, aber warum, kann ich ihrer Aura nicht entnehmen.
»Dann komm mal lieber mit uns«, sagt die Soldatin. Nach kurzem Zögern reicht sie mir die Hand.
Ich greife zu und rapple mich auf. Der Anzug ist kalt, metallisch, ihr Griff unter dem Handschuh nur undeutlich spürbar. Falls ihre Hand warm ist, so dringt es nicht durch den Stoff.
»Wir haben nicht genügend Schutzanzüge für den gesamten Stützpunkt, also müsstest du bitte einen anziehen. Einverstanden?«
Einer der beiden Männer trägt einen Anzug über der Schulter. Er reicht ihn mir.
»Die Größe habe ich wohl in etwa richtig eingeschätzt.« Die Soldatin zeigt mir, wie ich in den Anzug komme. Als er sich über meinem Kopf schließt, sträubt sich alles in mir. Der Helm rastet ein und verschließt sich automatisch. Die Frau erklärt mir, wie der Anzug zu bedienen ist und wie man darin atmet. Die gefilterte Luft schmeckt fade, nicht nach Insel.
Gemeinsam laufen wir den Hügel hinab. Ich komme mir tollpatschig vor, als wäre der Boden unter meinen Füßen meilenweit weg.
Als wäre ich für immer und für alle Zeit von der Erde getrennt.