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Die medizinische Brille
ОглавлениеBitte lesen Sie einmal aufmerksam folgenden Text: »Wechseljahre sind eine Krankheit und nicht natürlich. Sie sind von Menschenhand geschaffen. Frauen wurden um 1897 38 Jahre alt. Eine Hormonersatzbehandlung bedeutet daher eine Zurückversetzung der Frau in ihren ›Naturzustand‹.«
Haben Sie sich gerade verwundert die Augen gerieben und sich gefragt, welch schlichtes Gemüt das verzapft hat? Wie auch immer, es ist kein Scherz, sondern ein wörtlicher Auszug aus Pressemitteilungen des Berufsverbands der Frauenärzte e.V., Landesverband Niedersachsen aus dem Jahr 2002 (Quelle: arznei-telegramm® 2002; 33: 97-8). Unter wissenschaftlichen Kriterien war die mit der ganzen Autorität der Standesvertreter verkündete Mitteilung eine Blamage. Sie entsprach zum Glück nicht der Auffassung aller Kollegen. So spottete etwa die renommierte amerikanische Ärztin Susan Love: »Wenn Östrogenmangel tatsächlich eine Krankheit wäre, hätten die Mediziner alle Männer für chronisch krank erklären müssen« (Dr. Susan Love, Das Hormonbuch).
Dass Ärzte eine medizinische Brille tragen, kann man ihnen nicht verübeln, schließlich ist es ihr Job, für die Gesundheit ihrer Patienten zu sorgen, Risiken zu erkennen und zu vermeiden. Wie aber kommt es, dass sie so viel Einfluss auf einen normalen Lebensabschnitt gewinnen konnten? Die schulmedizinische Ausbildung trainiert eine pathologisierende Sichtweise, das Idealmodell von Gesundheit ist der leistungsstarke männliche Körper. Folgt man dieser Richtschnur, ist der weibliche Organismus mit seinen hormonellen Schwankungen ein potenzielles Gesundheitsrisiko, natürliche Umbruchphasen wie Schwangerschaft, Geburt und schließlich das Klimakterium bedürfen der ärztlichen Vorsorge und Kontrolle. Mittlerweile gilt die Vorstellung, der Wechsel sei eine therapiebedürftige Erkrankung, als überholt und so heißt es nun im Ärzteblatt: »Das Klimakterium ist nicht nur eine Zeit der hormonellen Umstellung, sondern auch eine Lebensphase der psychosozialen Adaptation mit Abschieden, neuen Herausforderungen und notwendiger Aktivierung von Ressourcen.«
Mediziner, die ihre westlich geprägte Perspektive durch andere ergänzen, gehen das Thema Wechseljahre differenziert und ganzheitlich an. Solcher Erkenntnis folgt aber längst nicht jeder Arzt.
Bei einer Routineuntersuchung wurde Hanna, 49, von ihrem Frauenarzt auf die Gefahren des Klimakteriums und des drohenden Östrogenmangels hingewiesen, »der zu schwerwiegenden Spätfolgen führt«. Was Hanna besonders ärgert: »Dass er mir ungefragt Hormone empfehlen wollte. Obwohl ich mich pudelwohl fühle und auch gar keine will.«
So ganz bleiben auch die Männer nicht verschont. Zunehmend gerät das »Klimakterium virile« ins Visier, die männlichen Wechseljahre. Dafür werden ähnliche Lösungen gestrickt: Ersetzen, was fehlt, durch hormonelle »Substitution«. Dass die Mehrzahl aller Menschen weltweit mit den Folgen eines längeren Lebens auch ohne Hormonpillen klarkommt, gerät aus dem verengten Blickfeld. Probleme und Befindlichkeiten, die mit dem Älterwerden in Zusammenhang stehen, können und sollen einfach wegtherapiert werden. Die Vorstellung, das Alter, insbesondere das der Frau, sei etwas tendenziell Bedrohliches, hat unser Denken stark geprägt. Daran hat auch die Berichterstattung in den letzten Jahren nicht wirklich viel verändert.