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ОглавлениеLos Angeles, Kalifornien, 1959
Kurt Powell war ein ganz normaler, durchschnittlicher, achtjähriger Schüler, wie er in der 4. Klasse einer ganz normalen durchschnittlichen Grundschule in einem ganz normalen durchschnittlichen Vorort einer normalen amerikanischen Großstadt sein kann. Das dachte er zumindest. Man könnte auch sagen, er wünschte es sich in seiner perfekten, rosaroten Kindesrealität, die jedoch sehr bald in sich zusammenfallen sollte.
Kurt war in den USA geboren worden und wuchs dort mit seinen aus Polen emigrierten Eltern auf, die aufgrund des kommunistischen, kompromisslosen Regimes der Sowjetunion mit viel Glück geflüchtet waren. Seine Eltern hatten nie etwas mit der wirtschaftspolitischen Lage ihrer Heimat anzufangen gewusst, doch vermochten sie erst vor neun Jahren genug Geld zusammen zu sparen, um sich die Ausreise aus ihrer Heimat und den Umzug ins Ausland leisten zu können. Die Vereinigten Staaten hatten damals ein Handelsembargo über die gesamte Union verhängt und jegliche Verwaltung wurde dadurch zentral auf Moskau verlagert, was das Sparen nicht gerade leichter machte.
Die beiden Frischvermählten träumten schon lange von einem Haus an der Westküste der USA, wo sie es sich wärmer und sicherer vorstellten. Sie hatten genug von ihrer Heimat, mehr denn je wegen der Drohung Eisenhowers, einen Atomkrieg anzuzetteln. Also setzten sie alles daran, so schnell wie möglich in die Staaten emigrieren zu können. Sie versuchten, sich ein neues, freieres Heim aufzubauen, wie viele andere Familien damals. Die meisten ihrer Freunde waren bereits ausgereist, vor allem in die DDR, nach Westdeutschland oder nach Israel. Irgendwann schafften es die beiden auch wirklich, genug Geld zusammen zu sparen, um sich vier gefälschte Pässe (zwei für ihre noch ungeborenen Wunschkinder) und den Flug leisten zu können und sogar ein wenig Startkapital zu haben.
Sie kamen planlos und überwältigt in den Staaten an, Kurts Mom mit ihm selbst hochschwanger. Kurts Dad fand bald einen schlecht bezahlten, harten Job als Bauarbeiter, den er zwar ungern machte, aber keine andere Wahl hatte. Bald zogen sie von einem billigen Motelzimmer in eine kleine Studentenwohnung am Rand von Los Angeles.
Kurt bekam von all diesen Schwierigkeiten nicht viel mit - er wuchs, wie der Großteil aller Kinder, in seiner eigenen, kleinen, aber doch unendlich großen Welt in seinem Kinderkopf auf, die von neuen, aufregenden Abenteuern nur so strotzte. Egal, wie viel oder wenig sie sich leisten konnten, Kurt wurde als kleines Kind nie langweilig. Etwa ein Jahr nach seiner Geburt wurde Kurts Mom zum zweiten Mal schwanger und von Dad immer wieder verprügelt, weil sie sich, wie er meinte, kein zweites Kind leisten konnten und der Zeitpunkt gerade überhaupt nicht passte. Daddy meinte, Mom sei schuld an ihrer Schwangerschaft. Er war nervös. Er brauchte ein Ventil, auch wenn er trotz ihrer Geldsorgen selbst ein zweites Kind wollte. Kurt merkte davon nichts, außer dass er beobachtete, wie Moms Bauch langsam größer wurde und sie sich, wie sie meinte, öfters an irgendwelchen Kästen gestoßen hätte.
Kurt hatte liebevolle Eltern, wenn man Dads sporadische Wutanfälle nicht mit zählte. Seine Mom wollte nur sein Bestes. Er hatte sich später zwar nie richtig an seine Kindheit erinnern können, doch er hätte sie im Großen und Ganzen wohl für schön und erfüllt befunden - bis er langsam ein individuelles Bewusstsein entwickelte und seine Umwelt plötzlich völlig anders wahrnahm. Der schöne Teil seiner Kindheit hörte auf, als er erkannte, dass er nicht der Mittelpunkt des Universums war, sondern dass es noch so viele andere Menschen um ihn herum gab, die alle unabhängig von ihm existierten und arbeiteten und weinten und Spaß hatten.
Und Kurt lernte dies bedeutend früher als jeder andere, den er kannte.