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Im Dolmuş

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„Nehmen wir den Bus?", wollte Rooperti wissen, ohne seinen Blick von einer schuluniformierten Kinderschar zu lösen, die scheinbar ohne Erziehungsberechtigte an einem Otogar, einer Busstation, herumlungerten.

„Nein, wir nehmen den Dolmus", entgegnete Claus.

„Wie kommt der denn hierher? Ich dachte, wir verzichten auf Tiere", wunderte sich Rooperti, „Dann hätten uns ja doch Dasher, Dancer oder…"

„Dolmus ist ein Sammeltaxi und kein Rentier, du Esel", fiel Santu ihm unsanft ins Wort.

Der Dolmuş wurde offiziell Anfang der 30er-Jahre in der Türkei eingeführt und gehört dort heute ins Landschaftsbild wie der Plastikmüll oder die zahlreichen leeren Olivenölkanister.

Der Dolmusbetrieb hat entscheidende Vorteile gegenüber dem regulären, westeuropäischen Taxisystem. Das ist einerseits der günstige Fahrpreis, andererseits die schnelle Verfügbarkeit.

Trauriger Nachteil: Die Fahrzeuge, es handelt sich in der Regel um antiquierte Kleinbusse, sind meist hoffnungslos überfüllt, und der technische Zustand dieser Fahrzeuge ist einer der Gründe für die hohe Selbstmordrate bei den Prüfern vom TÜVturk, der - nach gestrengem deutschen Vorbild - für die Kfz-Hauptuntersuchung zuständig ist. Ja, die gibt es tatsächlich.

Das Fabrikat des staubgrauen Dolmus‘, den Santu und Rooperti für ihre Fahrt nach Demre ergatterten, war ihnen völlig unbekannt. Aber das hatte nicht viel zu sagen, da sie eher Spezialisten für andere Gefährte waren. So konnten sie problemlos einen russischen Dreierzug von einem Schweizer Hornschlitten unterscheiden, oder einen nordischen Nansenschlitten von einem Tiroler Ziehschlitten. Mit den unterschiedlichen Autotypen hatten sie hingegen nichts am Hut oder Mütze, erst recht nicht fremdländischer Fabrikation.

Ihr Dolmus stammte eindeutig aus osmanischer Zeit.

Der Karren schien mehr vom blinden Vertrauen seines Fahrers als von Rost zusammen gehalten zu werden. Er war halt alt. Sehr alt. Wie auch sein Lenker: Ein buckeliger Lykier mit faltiger, nikotinverfärbter gräulich-brauner Haut und grauem Sieben- bis 14-Tagebart. Farblich alles Ton in Ton auf sein Vehikel abgestimmt.

Auf den Kopf des alten Seldschuken dominierte eine zerschlissene Schiebermütze aus gräuslich-gräulichem Kunstleder, die er mit einer braunen Putenfeder garniert hatte – ein optimistischer Versuch der optischen Veredelung.

Skeptisch glotzte der Mann, die qualmende Anadolu lässig im Mundwinkel, erst auf Rooperti, dann auf Santu, dann auf dessen Mütze.

„Du lykische Mütze, ich phrygische Mütze", übte sich Santu in Konversation, um das Eis zwischen den beiden Kulturen zu brechen. Schließlich hatte man noch über zwei Stunden gemeinsame Fahrt vor der Brust.

Der Mann stierte ihn weiter mit großen, glotzenden Augen an. Er glich unfreiwillig einem frisch geangelten Silvesterkarpfen auf dem Schneidebrett, angesichts eines gewaltigen Hackbeils.

„My friend“, versuchte es der leider nur mit mangelhaften Fremdsprachenkenntnissen gesegnete Santu weiter, „Chic hat you has".

Doch vergebens. Der türkische Cyprinus carpio stierte stumm wie ungerührt weiter.

„Onlar kafasına çok güzel hur, iyi bir adam var“, sprach plötzlich Rooperti den Karpfen an.

„Teşekkür ederim. Onlar çok dostu vardır“, antwortete der Bärtige postwendend. Er konnte also doch sprechen.

Diesmal war es Santu, der wie ein Karpfen glotze. Sein fragender Blick wechselte zwischen dem grauverliebten Fahrer und seinem wundersamen Knecht hin und her: „Du sprichst diese, dieses… Kauderwelsch?!?"

„Ja natürlich", lautete die lapidare Antwort, „Und nicht nur dieses Kauderwelsch, was übrigens Türkisch ist.“

„Wieso?“

„Na, weil wir schließlich in der Türkei sind, und man davon ausgehen kann, dass ein Einheimischer hier keine andere Spr...“

„Quatsch. Ich will wissen, wieso du dieses Heidenzeug sprechen kannst?“

„Ach sooo“, bewies Rooperti beeindruckend, dass er nicht schwer von Begriff war. „Was soll man denn sonst machen, den ganzen Sommer lang, auf einer einsamen Insel, mit nur einem Rentier als Gesellschafter?"

Ja stimmt, was eigentlich sonst, dachte Claus und verbannte sofort, natürlich ohne schlechtes Gewissen, seine ursprünglichen Verdachtsmomente.

Der Karpfen indes war jetzt ein Quäntchen freundlicher, zumindest dem Knecht gegenüber, und ließ es sich nicht nehmen - uns Ungläubigen, hah! -, ihr Gepäck unsanft ins hintere Teil des Kleinbusses zu befördern, wo eine ganze Sitzreihe fehlte. Claus verstand: Aha, ein improvisierter Gepäckraum. Wie originell.

Im fahrgastlichen Raum dominierten drei Düfte, die im Wettstreit miteinander lagen: Der Geruch nach Benzin, die Ausdünstung von Knoblauch und der Gestank nach Schweiß. Während sich die beiden Lappländer durch den schmalen Gang sowie Mief nach hinten quälten - der Bus war bereits so gut wie voll -, musste Claus gleich schon wieder disziplinarisch eingreifen. Denn zielstrebig hatte sich Rooperti den freien Sitzplatz neben einem kleinen, verstockt aussehenden Bengel auserkoren. Der Junge flegelte sich auf seinem Sitz an einem der hinteren Fenster. Noch bevor sich Rooperti auf den Sitz plumpsen lassen konnte, zog Santu ihn an dessen mittlerweile ausgeleierten Ärmel zu zwei freien Plätzen auf der anderen Seite des schmalen Gangs.

„Oyunbozan", quittierte er das mit beleidigtem Blick. Was immer das auch heißen mag, "Spielverderber" Claus ignorierte das geflissentlich und leicht verärgert ob des Herrschaftswissens seines Knechts.


Der Anlasser knarzte mehrere Male fürchterlich, als der Chauffeur den alten Dieselmotor anwarf. Eine riesige Qualmwolke hinter sich herziehend setzte sich der Dolmus in Bewegung. Und schon nach kurzer Fahrt verließen sie die Stadt: Adieu Antalya, tschüss Muttertier, leb wohl, du Rotzlöffel.

Die Tour führte über eine traumhafte Küstenstraße in Richtung Kemer. Rund 60 Kilometer lagen vor ihnen. Ehrfürchtig staunten sie, welch schönen Landstrich Gott hier erschaffen und es dann letztendlich den Muselmanen überlassen hatte.

Steinige Jagd

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