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Der Schaltplan

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Der Zeitdilatator hatte die Ausmaße eines größeren Einbaukühlschranks.

Auf den ersten Blick kam er dem Betrachter recht altertümlich und verspielt vor, so, als hätte der englische Schriftsteller H.G. Wells bei seiner Entwicklung mitgemischt. Wells hatte 1895 ebenfalls an einer Zeitmaschine gearbeitet, zumindest in seiner schriftstellerischen Fantasie. Diese Apparatur wurde später als „The Time Machine" gnadenlos in Schrift und Bild, bzw. Zelluloid, vermarktet.

Doch dem ersten antiken Eindruck sollte man in diesem Fall eine zweite Chance geben. Denn das System funktionierte tadellos, so alt es auch schien. Und nur das war entscheidend.

Der zeitraffende „Kühlschrank" stand in der Zentrale im Untergeschoss. Diese war das Herzstück der gesamten Anlage, quasi das Heiligtum.

Unter dem gleißenden Licht der Tageslichtröhren betraten Rooperti und Santu Claus, begleitet von zwei grimmig blickenden Sicherheitswichteln in grüner Uniform, den gnadenlos weißgetünchten und mausgrau bodengefliesten, vollklimatisierten Raum. Obwohl es nicht kalt war, ließ die sterile Atmosphäre Santu jedes Mal frösteln.

Der Begriff steril war eine ordentliche Untertreibung. Denn gegen die Atmosphäre in diesem Raum verströmte sogar eine forensische Pathologie den verträumten Charme einer ostfriesischen Teestube.

„Eine rote Bordüre tät‘ Wunder wirken", murmelte Claus in seinen Bart angesichts des kalten Ambientes.

„Wie meinen, Boss?", Rooperti hatte akustisch nicht verstanden.

„Nichts. Hab' nur laut gedacht.“

Das harte Summen der Kühl- und Stromaggregate durchschnitt die kalte Luft, kitzelte unangenehm Santus empfindliches Trommelfell.

„Leg‘ schon mal die Hebel 2 bis 7 um", befahl Santu und bohrte, um das lästige Kitzeln in den Ohren loszuwerden, leidenschaftlich mit den Zeigefingern in seinen Gehörgängen herum, dass es nur so knatschte. Dann stellte er eigenhändig mit gewichtiger Miene die Zeitschaltuhr auf die gewünschte Verzögerung ein und machte sich an verschiedenen Knöpfen zu schaffen. Anschließend schlug er mit der linken Hand übertrieben heftig auf den roten Sicherheits-Buzzer, der einerseits zum Entsperren, andererseits, beim zweiten Hieb, als Not-Stopp diente. Mit rechts legte er zugleich behutsam den schwarzgelben Master-Stick um.

In Erwartung des erst langsam, dann blitzartigen Hochfahrens des Generators, das dem Crescendo eines jaulenden Katers ähnelte, dem man versehentlich auf den Schwanz getreten war, schloss Claus die Augen.

Wie erwartet tat sich… nichts. Rein gar nichts. Nach einem kurzen Augenblick der Überraschung öffnete er die Augen. Aber alles blieb unverändert: Nichts schnurrte oder jaulte. Nichts blinkte. Und das Schlimmste: Keine Zeit raffte.

Überrascht drehte er sich nach Rooperti um.

„Was ist los? Was hast du jetzt wieder angestellt…, beziehungsweise nicht angestellt? Welchen Schalter hast du vergessen?"

„Negativ, Boss", beschied der Beschuldigte. „Alle Schalter auf ON!"

Merkwürdig. Was hat denn das nun zu bedeuten?

„Chef, ist vielleicht der Stecker ‘raus?", traute sich Rooperti die Mutter aller Unfragen, die meistens den nicht männlichen Fragestellern vorbehalten war.

Santu ließ sich natürlich nicht auf dieses Niveau herab, verdrehte hingegen nur seine Augen, was seinem Knecht allerdings verborgen blieb.

„Hmmm. Dann alle Schalter wieder auf OFF… Und jetzt die Prozedur nochmals von vorne."

Nach einem verstohlenen Blick auf die Steckdose (nur zur Sicherheit! Könnte vielleicht, möglicherweise, eventuell, gegebenenfalls ja doch… wie‘s der Teufel nun mal will), das gleiche Prozedere noch einmal: Alle benötigten Schalter umlegen, Knöpfe drücken und auf den Buzzer hauen…

Atemlose Spannung legte sich über den Raum.

Doch wieder nichts: Das Wundergerät streikte, ignorierte sie, schien sich förmlich über sie lustig zu machen.

Santu war mit seinem Latein am Ende: „Was nun, Rooperti. Einen Einfall, aber rasch!“

„Schrotthändler anrufen, Koffer packen und ab nach Hause", entgegnete der Angesprochene hoffnungsvoll wie praktisch. „Hätt‘ natürlich gerne einigen Blagen den Hintern versohlt", fuhr er leutselig fort. „Andererseits täte es der Menschheit vielleicht ganz gut, wenn wir einmal nicht am Start sind, was meinen Sie, Chef?"

„Ganz ausfallen lassen? Warum?"

„Na, dann würde das gemeine Volk erst einmal merken, wie wichtig wir sind. Und was von dem gewohnten Weihnachtsfest ohne uns übrig bliebe! Das wär' mal eine ganz neue Erfahrung." Dann etwas nachdenklich: „Vielleicht würde man dann endlich wieder auf das Wesentliche und auf den eigentlichen Kern dieses Spektakels zurückkommen."

Natürlich, so war der Knecht felsenfest überzeugt, sei ohne ihr Engagement die pure Langeweile angesagt, abgesehen von den Nebenschauplätzen des Festes, nämlich der ausufernden Völlerei, der kurzweiligen Familienkräche und der obligatorischen Fernseh-Nonstop-Berieselung.

Rooperti weiter: „Wir haben's in der Hand. Denn wir sind schließlich die Stars dieses Spektakels. WIR sind Weihnachten! Und den Aufschrei, den würde ich schon gerne mal hören…" Erwartungsvoll schaute Rooperti den Weihnachtsmann nach seiner ungewohnt emotionalen Eruption an.

„Na, na, na. Mal nicht so aufmüpfig, lieber Kollege. Schön wär's vielleicht. Aber das geht leider nicht", entgegnete Santu mechanisch, während sein Gehirn bereits auf Hochtouren arbeitete und nach einer Lösung des eigentlichen Problems suchte. „Das würde uns Millionen kosten. Ach, was sag‘ ich: Milliarden!" Denn schließlich ginge es bei dem „ganzen Brimborium“ nur ums Business, as usual. „Und wir sind nur ein kleines Rädchen in diesem System."

„Überleg' mal", erläuterte Santu weiter, „der Riesenberg an Geschenken. Was machen wir damit? Was ist mit den Lagerkosten? Und dann noch unser Personal, die Zulieferer, die Ausfallhonorare, und nicht zuletzt, unser Tier- und Fuhrpark… Was ist damit?"

Rooperti überlegte - zumindest tat er so. Eine direkte Antwort hatte er also nicht.

„Stell dir einmal vor, jemand verschickt einen Hund oder eine Katze", fuhr Santu fort, „gut verpackt in einem Pappkarton."

„Ja, schooon, aber…"

„Was meinst du wohl, wie die Tierchen nach drei oder mehr Wochen aussehen…?", fuhr Santu unbeirrt fort.

„Selbst, wenn sich die Sache nur zwei Wochen verzögern würde“, fuhr er fort, „dann stell‘ dir einmal vor: Das aufgeregte Kindchen packt mit großen Augen erwartungsvoll sein Geschenk aus. Und statt eines schmuseweichen Kläffers hält es plötzlich ein Steifftier in der Hand, das nie wieder bellen wird, geschweige denn mit dem Schwanz wedeln. Ein ehemaliges Tier, das nach ein paar Tagen Einzelhaft nur noch an einen makabren Scherzartikel zu Halloween erinnert. Und dann noch, brrrh, der Geruch. Ich möchte mir‘s gar nicht vorstellen…"

„Ja, ja, ist schon gut, ich verstehe", stoppte Rooperti die plastischen Ausführungen seines Chefs. „War ja nur so ein Gedanke. Also, was schlagen Sie vor?"

„Ganz einfach: Wir müssen das selbst in die Hand nehmen. Was kaputt geht, kann auch wieder repariert werden. Und zwar von uns: WIR reparieren es!"

Steinige Jagd

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