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Die Begegnung

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Endlich schienen Santu und Rooperti ihr Ziel erreicht zu haben: Sie entdeckten einen weißen Steinbau, der mitten in einer parkähnlichen Orangenplantage platziert war. Das musste die Nikolauskirche sein.

Ein metallener Zaun um den Park verhinderte das widerrechtliche und unkontrollierte Betreten des Grundstücks. Rechts davor machten sie den Zugangsbereich mit einem hölzernen Kassenhäuschen aus. Darin lümmelte ein gelangweilter Demrer (Oder Demmerer, Demraner, Myraner? Aber wen interessiert das schon?).

Höflich warteten sie, bis sich der etwa vierzigjährige Kassierer dazu bequemte, die zerfledderte Hürriyet aus der Hand zu legen, um sie endlich mit einem Blick zu beehren.

„Zwei Erwachsene?!" fragte er zwar lethargisch, aber immerhin beeindruckend scharfsinnig.

„Nein drei. Gott ist mit uns", antwortete Rooperti auf Türkisch.

„Es gibt nur einen Gott, und Muhammed ist sein Prophet", bemühte der Eintrittskartenverkäufer die Schahāda, nun aufmerksamer und sichtlich erfreut, dass Fremde erstens seiner Sprache mächtig und zweitens wohl des einzigen und richtigen Glaubens waren.

„Allahu akbar", trieb es Rooperti wieder einmal auf die Spitze, musste aber trotzdem den Eintrittspreis in voller Höhe berappen - zum Glück aber nur für zwei.

Nun reicht's aber, befand Santu. Er war fast schon in Sorge, dass sein Vasall gleich noch auf die Idee käme, seine Konvertierung zum Islam zu proklamieren. Und wieder zog er ihn am mittlerweile ausgeleierten Ärmel mit sich.

Sie wählten den Weg durch den mit Palmen, Orangenbäumen und Statuen gespickten Park, der geradewegs zur kirchlichen Eingangspforte führte. Die versteckte sich unter einem geschmacklos-neuzeitlichen Witterungsschutz, was viel von dem altertümlichen Charme der Kirche raubte.

Die dreischiffige Basilika, in dem Nikolaus seine vorletzte Ruhe fand, stammte im Kern aus dem 8. Jahrhundert. 300 Jahre später wurde der Kirche noch ein Kloster angegliedert.

Ehrfürchtig betraten Santu und Rooperti das Innere des sakralen Altbaus.

Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die dämmerigen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Durch die schmalen Fenster drangen nur wenige Sonnenstrahlen, die durch den Staub der Jahrhunderte leidlich sichtbar gemacht wurden.

Langsam schälten sich aus dem spätromanischen Zwielicht die zahlreichen, vom Zahn der Zeit und Atem der Touristen ausgebleichten Fresken heraus, die die Wände schmückten: Der wundertätige Nikolaus sowie weitere klerikale Prominenz ihrer Zeit, letztere legitimiert durch ihren allerhöchsten und allerherrlichsten Dienstherren.

Langsam und gespannt tasteten sich Santu und Rooperti durch das dunkle Gewölbe, in dem sich noch kein Tourist aufhielt.

Dann endlich. In einer halbrunden Nische entdeckten sie das Objekt ihrer Mühsal: Der Sarkophag des Heiligen Nikolaus zu Myra. Es handelte sich um ein mit aufwändigen Steinmetzarbeiten versehenes Grab, dessen Deckplatte der Bildhauer mit einem liegenden, aber aufgrund des zeitlichen Zahns nur noch schwer identifizierbaren Menschen versehen hatte.

Vor dem steinernen Sarg, dessen kunstvoll gearbeitete Vorderwand rustikal aufgebrochen worden war - angeblich vor rund 1000 Jahren -, stand in gebückter Haltung ein dunkelhaariger Mann. Ein Tourist?

Der Unbekannte war etwa 50 Jahre alt und fast kahlköpfig. Bekleidet war er mit einem feinen John Crocket-Anzug. Auf seiner Nase saß eine markante, sicherlich teure Tom-Ford-Brille mit dunklem Gestell und dicken, getönten Gläsern. Eines schien sicher: Dieser Mann gehörte zur Upperclass.

Der feine Herr stützte sich mit der linken Hand auf einen Stockregenschirm, bei dem es sich - oh, welch ein Zufall - ebenfalls um einen Maple-Handle-Umbrella handelte. In der rechten Hand hielt er ein Vergrößerungsglas, mit dem er Millimeter für Millimeter die seitlichen Sarkophag-Wandfragmente erforschte.

Neugierig beobachten die beiden weitgereisten Wahl-Finnen eine Weile das akribische Treiben des Kahlköpfigen.

„Sie brauchen nicht weiter zu suchen: Er steht direkt vor Ihnen", störte Rooperti den forschenden Geist des Lupenträgers.

Scheinbar erschreckt richtete sich der Kahle auf. „Wie, was? Suchen? Davor stehen?"

„Na, der Sarkophag, des Heiligen. Den suchen doch hier alle. Das Highlight in dieser Diaspora. Sie haben ihn entdeckt, meinte ich nur..."

Der Mann reagierte prompt auf die Unverschämtheit:

„Wollen Sie mich verkohlen, junger Mann?", entgegnete er mit ärgerlicher Stimme.

"Sorry", entgegnete Rooperti kleinlaut, sich wohl bewusst, dass er etwas zu weit gegangen war.

„Bitte haben Sie Nachsicht", kam der Weihnachtsmann seinem vorwitzigen Knecht zu Hilfe. "Mein, ähm, Kollege ist durch den sakralen Spirit in diesem heiligen Gemäuer etwas durcheinander. Übrigens, mein Name ist Claus. Aleksanteri Claus aus Finnland. Und das ist mein Knap... ähm Kollege, Herr Rooperti, ein Landsmann."

„Oh, Landsleute. Mein Name ist Professor Korhonen aus Helsinki", stellte der Angesprochene sich vor, nun wieder etwas versöhnt.

Korhonen? Na, das nennt man Zufall, dachte Santu. Erst der Regenschirm. Und jetzt der Alias-Name, den ich mir für meinen Reisepass ausgesucht habe. Korhonen schien tatsächlich ein Allerweltsnamen zu sein.

Rooperti, der mit unbewegtem Gesicht zuhörte, schien das weniger aufzufallen oder gar zu interessieren.

„Sie sind auch an sakralen Altertümern interessiert?", fragte Lupenmann Korhonen.

„Ja…, äh, aber aus beruflichen Gründen." Auf diese Frage war Santu nun gar nicht vorbereitet gewesen.

„Aus beruflichen Gründen? Das ist ja Interessant. Darf ich fragen, was Sie machen?"

„Ja, dürfen Sie", mischte sich Rooperti, nicht nur keck, sonder fast schon wieder unverschämt, in das Gespräch ein. „So, jetzt kommen Sie Chef, wir müssen weiter."

„Wir machen in..., ähm, Import/Export. Spedition von Geschenkartikel und so weiter", beantwortete Santu die Frage ausweichend und warf seinem Knecht einen strafenden Blick zu. „Und wir interessieren uns für die Geschichte des Bischofs zu Myra, der ja auch viele Menschen belieferte. UPS der Spätantike, quasi…"

„Interessanter Vergleich. Sehr interessant. Könnte man wirklich so sehen. Aber suchen Sie diesbezüglich etwas Bestimmtes?", fragte der Professor neugierig weiter nach.

„Ja, das machen wir. Wir sind dabei zu recherchieren, was mit den Grabbeigaben geschehen ist", verriet Claus. „Die Gebeine von Nicolaus selbst sollen ja bekanntlich im 11. Jahrhundert von italienischen Seefahrern nach Bari in Italien geschmuggelt worden sein, um diese vor den seldschukischen Eroberern in Sicherheit zu bringen."

„Richtig. Oder: Fast richtig", ergänzte Korhonen. „Erstens waren es nicht nur die Gebeine des Heiligen, sondern auch verschiedene Artefakte, wie Bischofsstab, Münzen und verschiedene Steintafeln, Reliefs, mit seltsamen Zeichen darauf, die von den Italienern mitgenommen wurden - 1087 übrigens. Und zweitens befinden sich die gesamten Reliquien nicht mehr in Bari, sondern wurden von der italienischen Regierung, was kaum jemand weiß, der Türkei nach langjährigen, zähen Verhandlungen wieder zurück gegeben. Und zwar klammheimlich."

Redselig dozierte der Gelehrte weiter. „Die Gebeine und Artefakte von Nikolaus befinden sich seit dem in einem Tresor im Topkapi-Palast in Istanbul. Und das Unglaublichste daran ist, dass das in der Öffentlichkeit bis dato noch nicht durchgedrungen ist. In Bari liegen nur gutgemachte Kopien der Reliquien von Nicola di Bari, wie er dort verehrt wird…"

Haben die Italiener tatsächlich „einen Türken" gebaut? Wobei dieser Begriff nicht ganz passend ist, bezieht er sich doch auf einen Schachautomaten, den ein gewisser Baron Wolfgang von Kempelen im 18. Jahrhundert gebaut hatte. An dieser Maschine war eine türkisch aussehende Puppe montiert, die die Schachfiguren bewegt hatte. Dieser Automat gewann die meisten seiner Partien. Der Trick: Im Inneren versteckte sich ein Schachmeister, der die Figuren über Hebel bewegte. Der Schwindel flog allerdings auf. Seitdem wurde der Ausdruck "einen Türken bauen" zum Sinnbild für tricksen und fälschen.

Santu Claus lief es wechselweise heiß und kalt den Rücken herunter. Er war nur langsam in der Lage, die für sie so wichtigen Informationen einzuordnen.

„Und da sind Sie sich ganz sicher, Herr Korhonen?"

„Entschuldigen Sie werter Herr, aber ich bin schließlich Professor für Altertumsgeschichte. Und der Heilige Nikolaus ist mein Spezialgebiet - und auch meine Lebensaufgabe", betonte Korhonen mit wichtigem Gesichtsausdruck. „Ich bin nicht nur sicher, sondern ich WEISS es, da ich die Reliquien - die falschen in Bari und die echten in Istanbul - höchstpersönlich in Augenschein nehmen durfte, wenn auch nur kurz."

Das stach.

Also Istanbul.

Jetzt würde der Weihnachtsmann doch noch in „sein" altes Konstantinopel kommen.

„Vielen Dank, Herr Professor", hatte er es jetzt eilig. „Bitte entschuldigen Sie uns. Sie haben uns sehr geholfen. Wir sind schon spät dran. Komm Rooperti."

„Kein Problem, Herr Claus", kommentierte der Professor jovial, der die plötzliche Eile der beiden aufmerksam wie verwundert registrierte, „Übrigens, nette Mütze. Sieht aus wie eine alte phrygische..." Aber das hörten Santu und sein Adlatus schon nicht mehr.

Schnellen Schrittes eilte das Duo aus der Kirche in Richtung Ausgang. Erneut passierten sie das Kassenhäuschen.

„Das war aber ein kurzer Besuch", sprach sie der Eintrittskartenverkäufer von der Seite an.

„Rufen Sie schnell die Polizei!", rief ihm Rooperti im Vorbeieilen aufgeregt zu, „Der Sarkophag wurde aufgebrochen und der heilige Nikolaus ist weg…!"

"Was? Aufgebrochen? Weg?!? Aber, wieso..." Dann nach einer kurzen Denkpause: "Ach sooo. Ein Scherz. Diese Westeuropäer. Immer ein Scherz auf Lager", murmelte er kopfschüttelnd und verzog schräg sein Gesicht. "Aber zumindest des rechten Glaubens..."

Im Hotel passierten die beiden Wahl-Finnen eilig die Rezeption, hinter der sich der schlafende Angestellte unruhig hin und her wälzte. Zurück in ihrem Zimmer legten Santu und Rooperti ungewohnte Betriebsamkeit an den Tag: Als erstes wurde der Airport Antalya angerufen, um einen Flug zu buchen: 18.40 Uhr, mit Onur-Air, und dann die Reisetaschen gepackt. Dann ging es zum Ausschecken. Alles im Dauerlauf.

An der Rezeption hatte sich nichts geändert.

Als hätte er die beiden Männer gespürt, schreckte der chronisch Müde aus dem Halbschlaf hoch. Pennt der denn nur? Was macht der eigentlich nachts?

„Und?", fragte der Schmierige anzüglich, sofort Herr seiner Sinne, und blinzelte verschwörerisch mit einem Auge, „Tüm Iyi? Gut Aufenthalt? Gut Amüsement? Schnell fertig? Viel Spaß?"

„Sehr gut", betonte Rooperti in dessen Sprache, um mit schmerzhaft verzogenem Gesicht und sein Hinterteil massierend hinzuzufügen: „Mir tut immer noch alles weh, und ich kann immer noch nicht richtig sitzen…"

Claus verstand zwar kein Wort, aber er konnte sich denken, mit welchen Kommentaren sein Knecht den Rezeptionisten bedient hatte, so wie dieser Mund und Augen aufriss. Der Mann war nun schlagartig munter, als wäre er in einen Bottich mit Flüssigstickstoff gefallen.

Mit einem Stoßgebet zum Himmel zerrte Santu seinen unberechenbaren Mitarbeiter an dessem ausgeleierten "Fass-Ärmel" in Richtung Ausgang. Mit unschuldiger Mine ließ sich Rooperti nach draußen ziehen, ohne sich nicht noch einmal umzublicken.

Draußen eilte das Paar schnellen Schrittes zur Dolmus-Haltestelle. Nach kurzer Wartezeit - gelobt sei das türkische Personennahverkehr-System - hielt ein staubgrauer Minibus unbekannten Fabrikats vor deren Nase. Ach Gott, wie klein ist die Welt...

„Viele Glück, Sie sehen wieder", freute sich der alte Lykier... nicht wirklich, hielt ihnen dennoch wie guten Bekannten die Hand hin.

Während Roperti den Handschlag freundlich erwiderte, salutierte Santu militärisch salopp mit zwei Fingern an seinem Mützenrand. Ohne den Gruß zu erwidern stierte der Grauhaarige wortlos erst ihn an, dann auf seine Mütze. Ach, das alte Procedere. Wie nett…

„Taschen hinten", befahl er auf - noch nicht mal fehlerfreiem - türkisch, „und du und du sitzen vorne."

Die beiden Reisenden machten es sich so gut es ging in ihren ausgeleierten Sitzen bequem, direkt hinter dem streng riechenden Fahrer, dessen Kleidungsstücke wohl mehr Kilometer hinter sich gebracht hatten als sein Träger selbst. Und das wahrscheinlich, ohne durch einen, geschweige mehreren Waschgängen olfaktorisch beeinflusst worden zu sein.

Und schon ging es los. 60 Kilometer die Küste entlang. Dieses Mal aber in anderer Richtung.

Auf halber Strecke überraschte der Fahrer seine bunte und laut plappernde Reiseschar wieder mit einem unerlässlichen Zwischenstopp. Der Haltepunkt - diesen als Rastplatz zu bezeichnen wäre sicherlich mehr als geschmeichelt gewesen - war ihnen zur allgemeinen gemischten Freude wohlbekannt und weckte bei Claus schon vor dem Halten ihres Gefährts ein beunruhigend würgendes Gefühl, das sich vom Magen aus langsam in Richtung Hals bewegte.

"Chef, was ist? Kommen Sie mit? Wird bestimmt wieder spannend."

Doch von Abenteuer dieser Art hatte Santu die Nase gestrichen voll - im wahrsten Sinne des Wortes.

"Von wegen. Das Schlamassel reicht so schon zu, in das du uns manövriert hast... Geh' ruhig alleine. Ich hatte schon 'mal das Vergnügen."

Nach Beendigung der obligatorischen Stoffwechselprozesse einer kleinen Minderheit, startete der Stoppelbärtige sein qualmendes Vehikel für ihre letzte Etappe.

An den wächsernen Gesichtern einiger Reisegenossen ließ sich unschwer erkennen, wer die Pause zweckbestimmend genutzt, und wer darauf wohlweislich verzichtet hatte.

Selbstzufrieden über seine Weitsicht, vor Abfahrt gewisse Dinge prophylaktisch geregelt zu haben, nutzte Claus die nächste Zeit für ein kleines Nickerchen, das trotz der widrigen Begleitumstände recht zufriedenstellend ausfiel.

Steinige Jagd

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