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Das Wiedersehen

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Rooperti führte sie auf der Admiral-Tafdil-Straße in nördlicher Richtung. Der Regen hatte immer noch nicht aufgehört. Fröstelnd klappte Santa seinen Kragen hoch und zog sich die phrygische Mütze tief ins Gesicht.

Sie passierten den Sultanahmet-Park, in denen einige auf Gaslaterne getrimmte Lampen ein trübes Licht verbreiteten, und stießen auf die Yerebata-Caddesi. Die Straße schien nicht enden zu wollen. Mein lieber Schwan, da ist Rooperti aber ganz schön weit gelaufen. Kein Wunder, dass er so außer Atem war, staunte Santu.

Dann waren sie endlich am Ziel. SULTANAHMET FISH HOUSE prangte es in großen, ehemals weißen Lettern über den Fenstern der zweiten Etage an einer schäbigen Fassade. Neben dem Schild glotzte sie ein Türkisches Auge an.

Das Türkische Auge, Nazar-Amulett genannt, oder „Auge der Fatima", ist nach der jüngsten Tochter Mohammeds benannt. Es soll, als Gegenzauber, seinen Besitzer beschützen und ihn beispielsweise vor dem bösen Blick bewahren, wie sie aus dem Reiseführer wussten.

"Heidnischer Schnickschnack", lautete Santus Statement, als Rooperti ihm das vorgelesen hatte. Ich glaub' eh nicht an diesen Blödsinn. Und außerdem hat Rooperti für den bösen Blick seinen ganz speziellen Gegenzauber, nämlich seine Rute. Also, was kann uns schon passieren?

Sie betraten selbstsicher das Innere des Restaurants. Claus war angenehm überrascht. Die Wände waren sauber in einem warmen Gelb und einem kühleren Hellblau gestrichen.

Über ihnen baumelten an die hundert kleine, kunterbunte orientalische Hängelämpchen, deren Licht eine heimelige Atmosphäre verbreitete. An den Wänden fanden sich verschiedene maritime Accessoires, darunter auch das Modell eines hölzernen Fisch-Trawlers.

Es herrschte gefräßiges Treiben an den Tischen, die beinahe ausnahmslos besetzt waren. Zielstrebig steuerten die beiden Nordländer auf den einzigen freien Platz zu, direkt vor einem Fenster, das von einer halbhohen Gardine in Karomuster verziert wurde.

Kaum hatten sie Platz genommen, eilte ein Kellner herbei und legte ihnen jeweils die zweisprachige Speisekarte vor, in englischer und türkischer Sprache.

„Şapkanızı çıkarın misiniz?“, sprach er mit fragender Stimme Santu an.

„No, no, noch nicht. Bitte geben noch etwas Zeit.“

„Chef, der Kellner fragte, ob Sie ihm bitte die Mütze geben."

„Kommt üüüberhaupt nicht in Frage. Sag ihm, er soll sich gefälligst selbst eine kaufen..." Sprach's und vertiefte sich wieder in die Speisekarte.

„Sie sollen ihm das Teil nicht schenken, Chef, sondern sie nur absetzen."

Aha, noch so ein Mützenfeind. Was haben die nur alle damit?

„Na gut. Mir soll's recht sein. Wenn er dann Ruhe gibt, dann ab damit. Aber die Mütze bleibt bei mir, auf meinem Stuhl, kapiert?"

Dem Kellner war das schlichtweg egal.

Der Mann hatte in seinem langjährigen Berufsleben schon so einiges erlebt, vor allem mit Touristen. Sollte dieser komische, dicke Kerl doch seine alberne Kappe deponieren, wo er wollte. Hauptsache, der verfiel vor Aufregung nicht gleich in eine kardiogene Schockstarre.

„Trotzdem gute Wahl, das Lokal", bemerkte Santu, der sich augenblicklich wieder beruhigt und in die Speisekarte vertieft hatte. Nicht so sein Knecht. Dessen Blick hing wie gebannt an Santus durch die Mütze scharfkantig eingedrückten Haarkranz, dass ihm das Aussehen eines alternden Hippies verlieh. Rooperti bewies dabei absolute Selbstkontrolle, nicht sofort vor Lachen lauthals loszubrüllen.

Claus, dem das natürlich entging, stieg das Wasser bis zur Nickhautdrüse seiner Augen, angesichts der vielen köstlichen Gerichte, die zur Disposition standen.

„Kebab kommt nicht in Frage", erklärte er weltmännisch, „Wir sind schließlich am Mittelmeer. Und deshalb kommt nur Fisch in Frage. Und zwar diesen…, diese Hamsi-Sardellen. Werd' ich gleich 'mal diesen kellnernden Neidhammel fragen: Hamm-Sie Sardellen? - Perfekt ausgesprochen, was?!?" Santu war so richtig aufgekratzt.

„Marmara-Meer, Chef, nicht Mittelmeer...", bemerkte Rooperti, „Aber, egal. Also, Sie nehmen also Fisch?"

„Nun ja, eigentlich war ich auf Gyros eingestellt…", übte sich Santu weiter in selbstgefälliger Lustigkeit. „Hamm-Si auch Gyros, oder hamm-Si nur Sardellen?" Claus kicherte über sein vermeintlich spaßiges Wortspiel.

Doch Rooperti konnte sich nur ein gequältes Lächeln abringen: „Ich nehme dann auch Fisch. Und zwar Fener baligi."

„Teufel, auch…", kommentierte Santu Roppertis Wahl.

„Seeteufel, um korrekt zu sein…"

Überzeugt, die richtige Wahl getroffen zu haben, klappte er das Speisekartenbuch zu, lehnte sich zurück und ließ seinen Blick langsam durch das Restaurant schweifen.

Plötzlich stockte sein Blick. „Chef, schau'n Sie mal. Na, das ist ja'n Ding!"

Claus, immer noch über sich selbst feixend, folgte seinen Blick und entdeckte zu seiner Überraschung Professor Korhonen, ihr stilvoller Landsmann aus Helsinki.

Der hatte sie, just, in diesem Augenblick, ebenfalls bemerkt. Erfreut winkte er ihnen zu, stand von seinem Platz auf und trat auf ihren Tisch zu.

„Guten Abend Herr Korhonen. Na, wenn das nicht eine Überraschung ist", begrüßte Santu den Ankömmling. „Zufälle gibt's, die gibt's gar nicht."

„Guten Tag Herr... Claus, war doch richtig, oder? Nun ja, es freut mich wirklich, Sie zu sehen. Und guten Tag Rumpeli. Ich bin wirklich entzückt."

„Rooperti", antwortete Rooperti. „Sie dürfen aber auch Herr Rooperti zu mir sagen."

Santu grollte: Weiß mein Knecht denn niemals, wann Schluss ist?

„Ja denn, Herr Rooperti, wie es beliebt", und wandte sich wieder dessem Vorgesetzten zu: „Sie wissen doch, es gibt keine Zufälle im Leben."

Da ihr Abschied aus der Kirche des Heiligen Nikolaus so überstürtzt gewesen wäre, hätte er gar keine Zeit mehr gehabt, ihnen zu verraten, dass Demre, also Myra, nur ein Zwischenstopp auf seinem Weg nach Istanbul war, wo er beruflich zu tun hätte. Und im "Sultanahmet fishhouse" würden sich früher oder später alle einfinden, die einen guten Fisch zu schätzen wüssten.

„Komisch", wunderte er sich, „aber dann hätten wir uns eigentlich bereits im Flugzeug sehen müssen." Nun, wie es auch sei, er würde sich freuen, wenn er ihnen an ihrem Tisch Gesellschaft leisten dürfte.

„Nein, danke", lehnte Rooperti kurz angebundenn ab.

„Sehr gern", stimmte Santu jovial aber unmissverständlich zu, und wies auf den freien Stuhl.

Missmutig beobachtete Rooperti, wie der Professor seinen Schirm neben seinem an die Stuhllehne hängte und Platz nahm.

Schon wieder einer dieser verdammten Zufälle, konstatierte Claus für sich: Zwei Stockschirme der gleichen, teuren Marke.

Nachdem der Kellner ihnen die bestellten Getränke kredenzt und ihre Essenswünsche auf den Weg gebracht hatte, wollte Professor Kohonen nun aber Genaueres über den Zweck ihrer Istanbul-Visite erfahren.

Um möglichst nahe an der Wahrheit zu bleiben - das beste Mittel übrigens, um nicht so leicht beim Lügen ertappt zu werden -, verriet Santu ihm, dass sie auf der Suche nach einem rätselhaften Relief seien, einer Grabbeigabe für den Heiligen Nikolaus, mit der Absicht, hinter das Geheimnis der Inschrift zu kommen.

„Interessant, interessant. Ja, diese Steintafel kenne ich. Die durfte ich sogar selbst schon einmal in Augenschein nehmen", antwortete der Professor.

Santu warf kurz einen bedeutungsvollen Blick in Richtung Rooperti, dessen ganze Konzentration aber einem Holzsplitter galt, den er sich irgendwo und irgendwann in die Handfläche getrieben hatte. Man musste halt Prioritäten setzen.

„Entziffert hat die Inschriften noch niemand, da die zuständigen Experten das Relief für recht bedeutungslos halten. Wobei ich persönlich da aber anderer Meinung bin", fuhr Korhonen mit gewichtiger Miene fort.

„Man hält es sogar für derart nebensächlich, dass es zwar in der Schatzkammer im Topkapi gelagert wird, aber meines Wissens noch nie Verwendung für eine Ausstellung fand."

„Schatzkammer? Topkapi? Nicht ausgestellt?", wiederholte Santu monoton, wie in einem trance-ähnlichen Zustand kognitiver Unfähigkeit.

„Wie darf ich mir das vorstellen? Befindet sich die Tafel dort etwa in einer Schublade, oder steht sie einfach auf dem Boden herum? Vielleicht dient sie heute sogar nur als zeitgenössische Unterlage für ein Ausstellungsstück?"

„Mitnichten, mitnichten, mein Bester. Sie fristet ihr Dasein, wenn ich das einmal so salopp formulieren darf, im hintersten Teil des dritten Saals der Schatzkammer. Dort befindet sich ein Tresor, in dem allerlei Artefakte deponiert werden, die größtenteils für spätere Ausstellungen in der Schatzkammer vorgesehen sind", erklärte der Professor.

"Woher wissen Sie das eigentlich so genau, Herr Professor?" Santu war sichtlich beeindruckt über das fulminante Wissen ihres Tischgenossens.

"Ähm, lieber Herr Claus. Zweifeln Sie etwa an meinem logischen Verständnis?" Der Experte hob herausfordernd seine Augenbrauen. "Warum sollte diese Platte plötzlich an Wert gewinnen? Nein, nein, sie liegt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch immer an ihrem angestammten Platz im Tresor, so wahr ich Korhonen heiße. So, und jetzt lasse Sie uns erst einmal angemessen dinieren."

Zwei Kellner waren mit den bestellten Speisen im Anmarsch. Für Claus waren es die gewünschten Hamsi-Sardellen, gegrillt, mit Reisbeilage und ebenfalls gegrillten Paprikaschoten. Rooperti, dem schon sichtlich das Wasser aus dem Mund lief, verschlang die ansehnlichen, auf verschiedene gedünstete Gemüsesorten repräsentativ angerichteten Seeteufelfilets, bereits mit den Augen.

Während Rooperti noch in vorfreudiger Betrachtung seines Fischarrangements versunken war, machte sich ihre neue Bekanntschaft bereits über sein Shish-Kebap her, ein scharf gewürztes Fleischgericht.

Bevor sie wieder das Gespräch aufnahmen, orderten sie nach der Hauptmahlzeit als Dessert jeweils eine Portion klebrig-süße Helva in Casserole sowie den unerlässlichen Apfel-Tee.

Nachdem sie alles vertilgt hatten, lehnten sie sich satt und zufrieden zurück.

„Ich gehe davon aus, dass Sie sich die Schatzkammer im Topkapi ansehen möchten", knüpfte der Professor an das vorherige Thema an und fischte dabei aus einem Schälchen eine Handvoll Kichererbsen zum Knabbern. „Wenn Sie möchten, begleite ich Sie. Ich habe sowieso noch in der Gegend zu tun. Morgen früh würde es bei mir passen. Was meinen Sie?"

Bevor Santu etwas sagen konnte, antwortete Rooperti: „Ja, sehr gern. Begleiten Sie uns doch."

Erstaunt über seine plötzliche Verbindlichkeit schaute Claus auf seinen Knecht.

Doch sofort dämmerte es ihm: Ach, mein rutenschwingender Pappenheimer, ich lese in dir wie in einem offenen Buch. Du Schlitzohr hast bestimmt nur zugestimmt, weil du dachtest, dass ich mich dann für das Gegenteil entscheide. Na warte, Früchtchen.

„Ach ja, das wäre nett. Wir wären wirklich sehr geehrt."

„Die Ehre ist ganz auf meiner Seite", erwiderte der Professor formvollendet, während Rooperti das Gesicht verzog, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen.

"Vergiss deinen Schirm nicht, lieber Knecht", sagte Santu schmunzelnd, als es Zeit zum Aufbruch war. Selbst ein Weihnachtsmann benötigte schließlich seinen Schlaf.

Steinige Jagd

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