Читать книгу Handbuch Ethik für Pädagogen - Thomas Kesselring - Страница 10
1.1. Was heißt „Moral“?
ОглавлениеIst mit den Begriffen „Moral“ und „Ethik“ dasselbe gemeint? Viele Autoren meinen: ja. – In der Regel werden diese Begriffe aber unterschiedlich verwendet.
Das Wort „Moral“ stammt vom lateinischen „mos“ (Plural: „mores“) = Sitte(n), Brauchtum. Die Moral kann man in erster Näherung als ein System von Regeln definieren, die von den Mitgliedern einer Gruppe oder Gemeinschaft respektiert werden. Bei vielen Menschen weckt der Begriff der Moral negative Assoziationen – wie „Moral predigen“, „moralinsaurer Griesgram“ –, die sich beim Ethik-Begriff nicht einstellen. Mit negativen Konnotationen ist „Moral“ deswegen belastet, weil wir damit sozialen Zwang assoziieren – du sollst, du darfst nicht… Kommt hinzu, dass der erhobene Zeigefinger an Heuchelei erinnert: „Sie predigen öffentlich Wasser und trinken heimlich Wein“ - wie Heinrich Heine die „Pfaffen“ seiner Zeit beschrieben hat.
Ein etwas anderes Verständnis von „Moral“ ist in der theologischen Ethik verbreitet. Moral, das ist die subjektive Privatmoral jedes einzelnen. Diese Auffassung ist in der Philosophie von G. W. F. Hegel [1770-1831] vorgezeichnet: „Der Begriff der Moralität ist das innerliche Verhalten des Willens zu sich selbst“ (Hegel 1821, § 112, Zusatz). Diese Definition vermag aber die negativen Konnotationen des „Moral“-Begriffs nicht zu erklären. Auf sie wird im Folgenden auch nicht mehr zurückgegriffen.
Weshalb unterziehen wir uns den Forderungen, die zwangsläufig mit einem moralischen Regelsystem einhergehen? Nun, Moral ist nicht irgendein System von Regeln – die Regeln des Schachspiels oder die Regelsysteme der deutschen Sprache, Syntax und Semantik haben mit Moral nichts zu tun. Diese stellt offenbar ein ganz besonderes Regelsystem dar. Als moralisch bezeichnen wir diejenigen Regeln oder Normen, die der menschlichen Kooperation zugrunde liegen und die sie überhaupt erst möglich machen. Wir wünschen uns von allen Menschen, die an einer Kooperation mit ihresgleichen interessiert sind, dass sie die betreffenden Normen einhalten.
In jeder sozialen Gruppe, deren Mitglieder über die Zeit hinweg eng kooperieren – sei es nun eine Eingeborenen-Gruppe oder eine Clan-Gemeinschaft –, entwickelt sich ein System von Regeln, Haltungen, sozialen Erwartungen usw. In den meisten Gesellschaften haben sich die Menschen gegenüber Fremden anders verhalten als gegenüber Gruppenmitgliedern, und dies während Jahrtausenden. Viele Regeln, die innerhalb der Gruppe beachtet wurden, galten nicht „nach außen“. Moral war in erster Linie ein in-group-Phänomen. Nach innen hielt man zusammen, nach außen konnte man Krieg führen. Die Mitglieder der eigenen Gruppen durfte man nicht betrügen, nicht bestehlen oder gar töten, gegenüber Fremden ohne Gastrecht hatten diese Regeln keine Gültigkeit – die Anwendung von täuschender List galt hier womöglich als Ehrensache.
In gewisser Weise ist so etwas wie eine gruppenspezifische „Moral“ auch heute noch gang und gäbe, etwa in Gestalt einer „Unternehmens-“ oder einer „Schulkultur“. Selbst die Mafia operiert mit einem Verhaltenskodex, gegen den ihre Mitglieder nicht verstoßen dürfen. Solche „Moral“-Systeme haben jedoch bloß partikuläre Geltung: Sie sind nur für die Mitglieder der betreffenden Gruppe oder Organisation verbindlich.
Zwischen Gruppenzugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit besteht auch in modernen Gesellschaften eine in moralischer Hinsicht pikante Asymmetrie: So profitieren beispielsweise die reichen Länder selbst heute noch – lange nach der Abschaffung des Kolonialismus – von der Armut der ehemaligen Kolonien und halten diese mit vielfältigen Methoden in ökonomischer Abhängigkeit. Unseren Verwandten und Freunden dasselbe anzutun, hätten wir wahrscheinlich die größten Skrupel.
Kasten 1.1.: Zwei Standards, zwei Arten der Moral
Studieren wir historische Gesellschaften, so stoßen wir fast immer auf eine „doppelte Moral“: Das Gebot der Rücksichtnahme hatte seine strikte Geltung vor allem im Nahbereich. Gegenüber ferner stehenden Personen galt es weniger strikt.
Noch heute gelten in manchen Gesellschaften für den Umgang mit Gruppen- oder Stammesmitgliedern andere Regeln als für den Kontakt mit fremden Personen. Im Zeitalter der „Globalisierung“ können wir uns mit einer solchen „Moral des Nahbereichs“ allein nicht mehr begnügen.
Angesichts der in der Einleitung erwähnten globalen Herausforderungen ist jedoch eine enge und verlässliche Kooperation über die Grenzen der eigenen sozialen Gruppe, ja der eigenen Nation hinweg unerlässlich. Man kann die Weltgesellschaft als eine moralische Gemeinschaft im Großen betrachten, und diese Weltgemeinschaft darf sich nicht in Streitereien zwischen den unzähligen partikulären Moralsystemen zerreiben. Dass man tolerant genug bleibt, sich zumindest nicht zu bekämpfen, wäre das Beispiel einer Regel, die wohl oder übel für alle verbindlich sein muss (vgl. Kapitel 10.4.). In der Klimapolitik etwa kommen wir um global akzeptierte Gerechtigkeitsmaßstäbe kaum herum. Zudem bedarf es eines weltweiten Konsenses über einen Kernbereich menschlicher Verhaltensnormen, wenn ein friedliches Zusammenleben der Menschen im Weltmaßstab möglich bleiben soll. Zu diesem Kernbereich gehören die wichtigsten Menschenrechte und die diesen Rechten zugeordneten negativen Grundnormen – andere nicht töten, nicht verletzen, nicht foltern oder quälen, nicht demütigen, nicht ausbeuten…
Wir erwarten für gewöhnlich, dass eine Verständigung über Moral zwischen den Mitgliedern verschiedener Gesellschaften möglich sein sollte und dass wir uns im Prinzip auch in interkulturellen Beziehungen auf verbindliche Regeln einigen können – auf Regeln also, die nicht von der jeweiligen Gruppenmoral abhängen, sondern über jede Gruppenmoral hinausgehen.
Ist diese Erwartung realistisch? Schon die moralischen Wertsysteme der Weltreligionen sind ja keineswegs deckungsgleich. Selbst Freunde beurteilen moralische relevante Situationen manchmal unterschiedlich. Doch eine universalistische, das heißt für alle Gesellschaften gültige Moral lässt durchaus Raum für gruppenspezifische und sogar individuelle Differenzen. Diese Differenzen dürfen nur die moralischen Essentials nicht tangieren. Die Ablehnung von Genozid, Mord, Folter und Sklaverei beispielsweise ist zwingend und darf nicht Gegenstand von Kontroversen sein.