Читать книгу Handbuch Ethik für Pädagogen - Thomas Kesselring - Страница 6

Vorwort

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Pädagogisches Handeln ist über weite Strecken ethisches Handeln. In der Erziehung stellen sich auf Schritt und Tritt ethische Fragen. Wie soll man es zum Beispiel mit der Strafe halten: Wann sind Sanktionen angebracht? Welche Strafen sind ethisch verantwortbar? Und die Belohnung – ist sie immer über jeden ethischen Verdacht erhaben?

Oder: Sollen Lehrkräfte und Erzieherinnen alle Schülerinnen und Schüler gleich behandeln? Auch diejenigen, die ihnen nicht so sympathisch sind? Wie wichtig ist Gerechtigkeit im Klassenraum? Ist Chancengleichheit eine rein politische Forderung oder auch eine ethische? Garantiert unser Bildungssystem Chancengleichheit?

Die meisten ethischen Fragen rund um Erziehung und Ausbildung beschränken sich nicht auf die Schule und das Bildungswesen. Zum Beispiel die Frage nach der Gewalt: Welche Ursachen hat sie, und was vermag man als Lehrkraft, als Erzieher/in oder auch als Politiker/in zu ihrer Vorbeugung auszurichten? Soll man gegen Gewalt auch dann vorgehen, wenn man dabei selbst Gewalt anwenden muss? Gibt es legitime Formen der Gewalt? Oder: Was sollten Lehrkräfte über die Grund- und Menschenrechte wissen? Wieso braucht es zusätzlich auch noch Kinderrechte? Wieso reichen die Menschenrechte für Kinder nicht aus?

Für das Erziehungswesen zentral ist auch die Frage nach der Entwicklung der moralischen und ethischen Überzeugungen bei Kindern und Jugendlichen. Welche Vorstellungen machen sich Kinder von „gut“ und „böse“, „erlaubt“ und „unerlaubt“, „fair“ und „unfair“? Wie verändern sich diese Vorstellungen vom Kleinkind- bis zum Erwachsenenalter? Wie werden sie handlungswirksam? Und wie kann man diese Entwicklung fördern?

Ethische Fragen stellen sich nicht zuletzt bei der Zielsetzung pädagogischen Handelns. Von der Schule wird allgemein erwartet, dass sie Kinder und Heranwachsende beim Aufbau wesentlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten anleitet und unterstützt. Doch was sind das für Fähigkeiten und Fertigkeiten? In den modernen pluralistischen Gesellschaften besteht darüber keine Einigkeit. Oft wird die Idee suggeriert, die Antwort auf diese Frage hänge von der jeweiligen Marktlage ab. – Kann man jedoch bei einem so wesentlichen Anliegen die Ethik ausblenden? Und ist nicht genau dieses auch selbst eine ethische Frage?

Die Antworten auf diese und ähnliche Fragestellungen werden weitgehend der konkreten Erfahrung und der Intuition der Erzieher/innen, der Lehrkräfte und der Pädagog/innen überlassen. Als Erzieher/innen oder Lehrkräfte handeln wir intuitiv und – aufgrund von langjähriger Erfahrung – hoffentlich spontan richtig. Manchmal entdecken wir allerdings im Nachhinein, dass wir es hätten besser machen können. Und manchmal wissen wir nicht, ob wir wirklich gut oder korrekt gehandelt haben…

„Na und?“ – wird man hier vielleicht entgegnen: Lehrkräfte sollen doch vor allem guten Unterricht geben, alles andere ist nebensächlich. Sie sollen sich dabei am Lehrplan orientieren, an den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln ihrer Zunft, an den sozialen Erwartungen, die sich auf sie richten, und am jeweiligen bildungspolitischen Mainstream. – Doch wer so denkt, läuft Gefahr, den Soll-Zustand mit dem Ist-Zustand, das Erwünschte mit dem Bestehenden zu verwechseln. Wer diesen Fehlschluss vermeiden will, wird sich auf ethische Reflexionen einlassen müssen. Lehrplan, Professionsregeln, soziale Erwartungen und bildungspolitischer Mainstream liefern nicht weniger, aber auch nicht mehr als Ad-hoc-Orientierungen. In diesen Orientierungen spiegelt sich der – von höheren ethischen Ansprüchen weitgehend entlastete – Zeitgeist. Und mit diesem können sie sich jederzeit verändern. Wie weit diese Orientierungen in einem tieferen Sinn zukunftsfähig und geeignet sind, die heranwachsende Generation auf die Verantwortung, in die sie hineinwächst, genügend vorzubereiten (eine Frage wiederum von höchster ethischer Brisanz!), zeigt sich häufig erst im Nachhinein.

Die Ethik ist selbst nicht Teil der Pädagogik, sondern gehört zu ihren Voraussetzungen und Grundlagen. Allerdings müssen ihre Spuren im pädagogischen Alltag über weite Strecken erst freigelegt werden. Dazu bedarf es einer eigenen Reflexion, und zwar einer Reflexion, die die Pädagogik auf Schritt und Tritt begleiten sollte.

Das vorliegende Handbuch will zu einer solchen Reflexion eine Anleitung bieten. Dieses Anliegen verfolgt es über drei Teilziele: Erstens will es Pädagog/innen und Lehrkräfte in die Ethik einführen und ihnen das begriffliche Rüstzeug für ethische Reflexionen in die Hand geben. Das geschieht im ersten Teil. Zweitens greift es ethische Fragen aus dem Gebiet der Pädagogik und, allgemeiner, des Bildungswesens auf. Dies ist der Inhalt des zweiten Teils. Bei allem Respekt für disziplinäre Trennungen will dieses Handbuch drittens die engen Beziehungen zwischen den Grundanliegen der Pädagogik und der Ethik in Erinnerung rufen – auch und gerade dort, wo diese Beziehungen verblasst oder durch eine Orientierung am „courant normal“ verschüttet worden sind. Das Werk versteht sich zugleich als eine Art Spurensuche – eine Suche nach den Spuren, die ethische Überzeugungen, Praktiken, Gewohnheiten und Traditionen im Erziehungs- und Bildungswesen hinterlassen, aber auch nach den Spuren, die da und dort vom Fehlen einer ethischen Orientierung zeugen.

Der zweiteilige Aufbau des Handbuchs erklärt sich mit Blick auf diese drei Ziele. Der erste Teil stellt eine Einführung in die Ethik (mit Blick auf Erziehungs- und pädagogische Fragen) dar, der zweite eine ethische Reflexion auf die pädagogische Praxis und ihre Rahmenbedingungen. Die beiden Teile sind Kapitel für Kapitel eng aufeinander bezogen (vgl. die tabellarische Übersicht S. 16f.).

Im Ethik-Teil wie im Pädagogik-Teil folgt der Aufbau der Kapitel einem je eigenen „roten Faden“. Gleichzeitig sind die beiden Teile so gegliedert, dass sich der Leser die Bezüge zwischen ihnen – Kapitel für Kapitel – jederzeit vor Augen führen kann.


Diese Parallelführung zwischen dem Ethik- und dem Pädagogik-Teil soll die Transparenz erhöhen und den Überblick über die Gesamtthematik erleichtern.

Der Leser bzw. die Leserin kann sich die aufeinander folgenden Kapitel nacheinander erarbeiten oder die Lektüre auf ausgewählte Kapitel beschränken. Spätere Kapitel bauen in der Regel auf früheren auf, aber der vorausgesetzte Stoff wird jedes Mal so weit erläutert, dass die weiter hinten behandelten Themen auch für Leser/innen, die das Vorhergehende nicht oder nur teilweise zur Kenntnis genommen haben, zugänglich bleiben. – Am Ende noch ein paar Bemerkungen zur Verfassung dieses Textes:

(1) Bei Hinweisen auf andere Kapitel des Buches bezieht sich die römische Ziffer (I. bzw. II.) auf den ersten bzw. zweiten Teil des Buches. Diese Ziffer steht allerdings nur dann, wenn das Kapitel, auf das verwiesen wird, zum jeweils anderen Teil des Buches gehört.

(2) Wenn von „Schülern“, „Lehrkräften“, „Erzieherinnen“ usw. die Rede ist, sind Schülerinnen, Lehrerinnen und Erzieher immer mitgedacht. Häufig – aus stilistischen Gründen jedoch nicht mit pedantischer Regelmäßigkeit – werden auch Kunstwörter, wie z.B. „Schüler/in“, „Pädagog/innen“ usw. verwendet.

(3) Häufig wird bewusst auf ältere Literatur zurückgegriffen – vor allem dort, wo diese von der Flut jüngerer Publikationen nicht entwertet wurde.

Der erste Teil dieses Buches ist aus einem Vorlesungsskript an der pädagogischen Hochschule Bern entstanden. Für kritische Rückmeldungen zu einzelnen Fassungen dieses Skripts oder zur Rohfassung einzelner Kapitel dieses Buches, habe ich vielen Personen zu danken – so insbesondere Ullrich Borchers, Franz Meier, Andreas Graeser, Heinz Herzig, Wolfgang Lienemann, Fritz Osterwalder, Alex Sutter sowie allen Studierenden, die zu einem der Skripte kritische Rückmeldungen gegeben haben – insbesondere Cornelia Eggler, Christian Giger und Cristian Kissler. Der Erziehungsdirektion des Kantons Bern danke ich für die Entlastung, die ich für das Verfassen eines Ethik-Skripts gewährt bekam, der Pädagogischen Hochschule Bern für die Reduktion der Unterrichtsverpflichtung, was mir vor allem die Arbeit am zweiten Teil dieses Handbuchs sowie die Erstellung des Layouts ermöglicht hat, und dem Schweizerischen Nationalfonds für den großzügigen Druckkostenzuschuss.

Zusatz zur zweiten Auflage: Für die 2. Auflage wurden ein paar Kapitel (Kap. I.1, 7, 8; II.5, 9 und 12) geringfügig verändert und – unter Einarbeitung neuerer Literatur – ergänzt.

Bern, im Frühjahr 2012

Tabellarische Inhaltsübersicht:

Teil I: Einführung in die Ethik für Pädagogen Teil II: Pädagogik als Herausforderung an die Ethik
A. Ethik im Alltag A. Bildungswesen: Spurensuche Ethik
1. Ethik – was ist das? 1. Bildung – was ist das?
Einführung in die Grundlagen der Ethik. Diskussion wichtiger ethischer Grundbegriffe. Einführung in die Grundlagen der Bildungstheorie. Diskussion wesentlicher Bildungskonzepte.
2. Freiheit und ihre ethische Bedeutung 2. Bildungsziele – Ausbildungsziele
Klärung des Freiheitsbegriffs, differenziert nach Handlungs- und Willens- oder Entscheidungsfreiheit. Jedes Beurteilen und Werten von Dingen (Leistungen, Handlungen) setzt Freiheit voraus. Diskussion von Ausbildungszielen. Die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die wir ausbilden, erweitern die Spielräume unserer Freiheit. Besonders wertvoll ist die Fähigkeit zur Selbstbestimmung.
3. Wertgeschätzte Haltungen: Tugenden 3. Exzellenzkriterien. Standards im Bildungswesen?
Der Begriff „Tugend“ (= Haltung, die sozial angesehen ist) verweist auf die Vorstellung charakterlicher Exzellenz. Hinter dieser Vorstellung steht immer ein Menschenbild. Wie weit ist das Tugendkonzept für heutige Gesellschaften noch aktuell? Und gibt es auch universalistische Tugenden? Der Begriff des Standards (= Qualitätsmaßstabs) stammt aus dem Management und verweist auf die Vorstellung von Exzellenz in einem technologischen Sinn. Doch welche Zielsetzungen verbinden sich mit Exzellenzkriterien im Bildungswesen? Geht es dabei noch um den Menschen?
4. Achtung und ihr Gegenteil 4. Vorbeugen gegen Diskriminierung und Gewalt
Warum ist die Achtung die ethische Grundhaltung und nicht die Liebe? Weshalb lässt sich die Ethik nicht auf Sympathiegefühlen gründen? Welchen Einfluss haben Nähe und Ferne auf die Ethik? Was bedeutet Diskriminierung, das Gegenteil von Achtung, genau? Der Achtung als ethischer Grundhaltung direkt entgegengesetzt sind die Tendenzen zur Diskriminierung und zur Gewalt. Welches sind die Gesichter der Gewalt? Welche Ursachen haben Gewalt und Aggression? Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es?
5. Entwicklung des moralischen Urteilens und Handelns 5. Entwicklung der Emotionen und der Empathie
Wie entwickelt sich die moralische Urteilsfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen? Wie lässt sich diese Entwicklung fördern? Wie werden moralische Überzeugungen handlungswirksam? Mit welchen Stolpersteinen ist zu rechnen? Wie entwickeln sich die Emotionen, das Emotionswissen und die Einfühlung bei Kindern und Jugendlichen? Wann beginnt diese Entwicklung? Wie beeinflusst sie die Moralkompetenz? Und welche Folgen haben Fehlentwicklungen?
B. Welche Ethik? B. Ethik im Lehrerhandeln/Ethik im Schulalltag
6. Utilitaristische Ethik 6. Sanktionswesen: Strafen und Belohnen
Der Utilitarismus, eine der wichtigsten Ethik-Traditionen der Gegenwart, führt das Gute auf das Nützliche zurück. Doch oft versagt dieser Ansatz. Sanktionen lassen sich am besten utilitaristisch begründen; doch bedarf es zusätzlicher Gesichtspunkte, auch pädagogischer.
7. Ethik und Kooperation 7. Kooperative Konfliktlösungen: Verhandeln und Vermitteln
Ethik hat viel mit Kooperation zu tun: Wo Menschen zusammenleben und kooperieren, ist ein Minimum an Ethik erforderlich, und die allseitige Berücksichtigung ethischer Normen und Werte setzt umgekehrt Kooperation voraus. Auf diesen Zusammenhang verweist z.B. die Goldene Regel. Die Fähigkeit, Konflikte zu lösen, zu verhandeln und zwischen Konfliktpartnern zu vermitteln, gehört zur Sozialkompetenz von Erzieher/innen und Lehrkräften. Eine kooperative Strategie ist bei all diesen Interaktionen einer nicht kooperativen klar überlegen, wenn man dabei nicht naiv verfährt.
8. Ethik und Wettbewerb. Ethik und Tausch 8. Beurteilen, Noten geben, Selektieren
Zwischen Wettbewerb und Ethik besteht eine Spannung. Wettbewerbsveranstaltungen werden gewöhnlich durch Fairnessregeln zivilisiert. Diese sind für alle „Spieler“ gültig. Ihre Einhaltung setzt Kooperations-Bereitschaft voraus. Schüler/innen stehen zueinander in einem nicht deklarierten Wettbewerb. Das zeigt sich spätestens, wenn Selektionsprozesse anstehen. Gerechtigkeit ist dabei eine Minimalforderung, aber nur zu einem hohen Preis erfüllbar.
C. Ethik in der modernen Gesellschaft C. Institutionelle Rahmenbedingungen, ethisch beleuchtet
9. Gerechtigkeit 9. Chancengleichheit im Bildungswesen
Gerechtigkeit gehört zu den wichtigsten ethischen Werten einer modernen Gesellschaft. Dabei gibt es unterschiedlichste Gerechtigkeitsmaßstäbe. Verteilende, ausgleichende und Verfahrensgerechtigkeit sind auch im schulischen Kontext grundlegend. In einer Wettbewerbsgesellschaft ist Chancengleichheit der wichtigste Gerechtigkeitsmaßstab. Dieser Maßstab verweist auf das Bildungssystem: Es fungiert als das Zünglein an der Waage der Gerechtigkeit. Doch mit welchem Ergebnis?
10. Ethischer Universalismus und ethischer Relativismus 10. Pädagogik der Vielfalt
Selbst wenn jede Gesellschaft, jede Religion ihre eigene Ethik haben mag - können wir in der Ära der „Globalisierung“ auf so etwas wie eine allgemeingültige, eine universalistische Ethik, wirklich verzichten? In einer Pädagogik der Vielfalt ist „Integration“ ein Schlüsselbegriff. Das ethische Pendant dazu ist die Koordination der Werte und Lebensformen. Diese Koordination stellt selbst einen übergeordneten und also universalistischen Wert dar.
11. Menschenrechte 11. Kinderrechte
Was sind Menschenrechte? Wie sind sie historisch entstanden? Wie sehen die entsprechenden Pflichten aus? Welche Rolle spielen die Menschenrechte in der modernen Welt, und wie verhalten sie sich zur kulturellen Vielfalt? Warum braucht es besondere Kinderrechte? Welche Prozesse hat die Kinderrechtskonvention ausgelöst? Welches Gewicht kommt in der Ausbildung diesen Rechten zu und welches Gewicht in diesen Rechten dem Thema Ausbildung?
D. Ethik und Einfluss D. Berufsethische Quintessenz
12. Macht, Autorität, Verantwortung 12. Berufsethos des Lehrers (Pädagogen)
Lehrkräfte üben Einfluss auf Kinder aus, haben also Macht und damit auch Verantwortung. Der verantwortliche Umgang mit Macht ist ein ethisches Thema, dessen Klärung nicht zufällig erst am Ende der Ethik-Einführung erfolgen kann. Wie die meisten Berufe, orientiert sich auch der Lehrerberuf an einem Berufsethos. Dazu gehören unter anderem Integrität, Sensibilität, Selbstreflexion, pädagogisches Vertrauen, Gesprächsbereitschaft und Humor.
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