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1.5. Moralische Interessen

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Genau besehen, sind in der vorhin angeführten Argumentation zwei verschiedene Interessen im Spiel. Das eine liegt klar auf der Hand: Wir halten uns an die Normen, um nicht bestraft oder geächtet zu werden. Für die Klärung des anderen Interesses bedarf es einer kurzen Erläuterung.

Wir sind an einer Gesellschaftsordnung interessiert, in der verbindliche moralische Regeln herrschen. Wir haben ein Interesse daran, diese Regeln auch selbst zu befolgen. Dieses Interesse ist schwieriger zu verstehen, weil der Einwand naheliegt, dass dieses Interesse sich immer dann verflüchtigt, wenn wir erkennen, dass wir uns über die Regeln hinwegsetzen könnten, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Auf diesen Einwand gibt es aber eine einfache Antwort: Die meisten Menschen ziehen es auch in der erwähnten Situation vor, sich an die Regeln zu halten, und zwar zum einen deswegen, weil sie andernfalls auf soziale Ablehnung stießen, und zum anderen, weil sie sonst vor sich selbst „das Gesicht verlören“. Es gibt so etwas wie eine moralische Scham, die uns davon abhält, gegen moralische Normen zu verstoßen – ein „Gefühl des Selbstwertverlustes in den Augen der (möglichen) anderen“ (Tugendhat 1993, S. 57).

Diese kurze Skizze mag genügen um deutlich zu machen, wie sich unsere Motivation, moralisch zu handeln, verstehen lässt. Gleichzeitig spannt sie den Bogen zum Phänomen der Menschenwürde zurück, mit dem dieses Kapitel begann. – Doch diese Skizze wäre unvollständig ohne den Hinweis darauf, dass viele Menschen kein so stark entwickeltes Bewusstsein von der eigenen Würde haben, als dass sie nicht bereit wären, sich über moralische Normen hinwegzusetzen, und dass es auch Menschen gibt, die sich vor Ablehnung und Verachtung nicht besonders fürchten und die finden, sie gewännen durch Regelverletzungen mehr als sie durch die Ablehnung, die sie dafür ernten, verlören. Solchen Personen fehlt offenbar der moralische Sinn (englisch: „moral sense“) bzw. die Sensibilität für die negativen Konsequenzen solcher Regelverstöße und für das Urteil der anderen. Sie sind „schamlos“. Doch die meisten Menschen halten es nicht lange aus, wenn sie von ihren Mitmenschen verachtet werden. Dies dürfte erklären, weshalb es selten vorkommt, dass sich jemand gar nicht um moralische Regeln kümmert, wogegen es viele Menschen gibt, die zwar zuweilen kleinere moralische Regelverstöße in Kauf nehmen, vor krasseren Vergehen – Körperverletzung, Folter, Mord – hingegen zurückschrecken.

Die Motivation, sich wo immer möglich ethisch korrekt zu verhalten, ist also, wie die vorausgehenden Überlegungen deutlich machen, offenbar keine Selbstverständlichkeit. Sie ist nicht angeboren, sondern muss erworben werden (über die Bedingungen der Entstehung dieser Motivation vgl. Kapitel I.5. und II.5.).

Handbuch Ethik für Pädagogen

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