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Einleitung: Ethik und Erziehung
ОглавлениеFrüheren Generationen wäre es kaum in den Sinn gekommen, die Beziehung zwischen Pädagogik und Ethik für klärungsbedürftig zu halten. Beides galt naturgemäß als untrennbar. Vom Pädagogen, der – nach der Herkunft des Wortes – Kinder führt oder anleitet, wird erwartet, dass er weiß, was für die Kinder gut ist und wie man sich im Umgang mit Kindern anstellt. In der Erziehung steht das „Gute“ für einen Wertmaßstab, der sich auf beides bezieht, auf das Ziel des Erziehungsprozesses ebenso wie auf die Qualität dieses Prozesses selbst. Doch wie kann man das „Gute“ inhaltlich bestimmen? Als gut galten in der Vergangenheit einerseits die Fortführung der Tradition und andererseits die Verbesserung der kollektiven Lebensbedingungen. Die Gewissheit, dass die eigene Tradition „richtig“ bzw. „gut“ ist, stützte sich teils auf Erfahrung und teils auf überlieferte religiöse Überzeugungen.
Nicht zufällig sind die ersten Bildungsinstitutionen im Rahmen der Kirche entstanden – eine Tatsache, die sich keineswegs auf den christlichen Okzident beschränkt. In den modernen westlichen Gesellschaften ist das Schulwesen aber schon lange in die Zuständigkeit des Staates übergegangen – eine späte Folge der Trennung von Staat und Kirche. Was bedeutet das für die der Erziehung zugrunde liegenden Wertmaßstäbe?
Bekanntlich gehört zu den wichtigsten Elementen von Bildung im klassischen Sinn, neben der Vermittlung aller übrigen Fertigkeiten und Kenntnisse, auch die Stärkung der „Ich-Kompetenz“: die Unterstützung der persönlichen Entwicklung, die – mit einem Begriff Kants – zur Autonomie führen soll. Autonomie im ethischen Sinn bezeichnet die Fähigkeit, sein Leben nach Regeln zu gestalten, die nicht nur für einen selbst, sondern im Prinzip auch für alle anderen annehmbar sind. Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt, bedeutet autonomia soviel wie die Fähigkeit, „sich selbst das Gesetz zu geben“. Wer autonom in diesem Sinne handelt, handelt zugleich rücksichtsvoll oder, wie Kant es formuliert hat, er handelt nach der „Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens“.
Vieles von dem, was früheren Generationen als gewiss und selbstverständlich gegolten hat, ist heute ins Belieben des Einzelnen gestellt. Eine Indoktrination mit Werten wäre deshalb nicht nur unzeitgemäß, sondern auch kontraproduktiv. Denn die inhaltlichen Anliegen der Ethik – die Entwicklung von Glücksvorstellungen, der Aufbau einer Wertorientierung und die Wahl einer konkreten Lebensweise – gelten heute als Privatsache, als Angelegenheit der einzelnen Bürgerin und des einzelnen Bürgers. Das ist nicht immer so gewesen: Noch vor wenigen Generationen hätte man gesagt, diese Anliegen fielen in die Zuständigkeit der Religion. In den westlichen Gesellschaften hat die Religion ihre allgemeine Verbindlichkeit aber seit längerem verloren. Der Staat wiederum ist in erster Linie verantwortlich für vergleichsweise formelle Anliegen, wie die Sicherung der Grundfreiheiten des Einzelnen, und er garantiert die Bedingungen, die ein friedliches Zusammenleben der Menschen ermöglichen: Der Staat wacht also über die Einhaltung der wichtigsten Regeln der Gesellschaft. Fragen, die die Wertorientierung oder das „gute Leben“ betreffen, fallen nicht in sein Ressort, sie bleiben also ausschließlich dem Einzelnen überlassen.
Dieser hat die Freiheit, seine Wertüberzeugungen und Glücksvorstellungen selbst zu wählen. Der Gebrauch dieser Freiheit ist manchmal beschwerlich, er setzt die Bereitschaft zu systematischem Denken, zur argumentativen Auseinandersetzung und zur Übernahme ethischer Verantwortung voraus. In Abwandlung eines berühmten Satzes nochmals von Kant: Die bloße Fähigkeit zur Selbstbestimmung ohne politische Freiheit ist leer; politische Freiheit ohne die Fähigkeit zur Selbstbestimmung aber ist blind.
Fragen der Wertorientierung und der „guten“ Lebensgestaltung tangieren natürlich auch das Bildungswesen, und dieses liegt in der Zuständigkeit des Staates, der allerdings, wie erwähnt, zu den inhaltlichen Anliegen der Ethik nicht Stellung nimmt. Praktisch heißt das: Das öffentliche Bildungswesen sorgt für die Ausbildung der Menschen – ihre Vorbereitung auf eine Berufsausbildung und auf eine Existenz als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Doch sorgt er nicht für ihre Bildung im emphatischen Sinn. Mit diesem Umstand wiederum hängt zusammen, dass trotz der Etablierung von Ethik als Schulfach (vor allem an Gymnasien) die ethische Reflexion des Erziehungs- und Bildungsgeschehens selbst offiziell nirgends ihren Ort hat – nicht in der Bildungspolitik und erst recht nicht in den Lehrplänen.
Obwohl es in einer pluralistischen Gesellschaft kein ethisches Credo gibt, auf das sich alle gesellschaftlichen Gruppen ohne weiteres zu einigen vermöchten, kann man sich dennoch fragen, ob sich unsere Schulen und Bildungsinstitutionen so viel Enthaltsamkeit in Sachen Ethik wirklich leisten können. Diese Frage stellt sich erstens, weil die Fähigkeit, das eigene Leben selbstverantwortlich zu führen, zur Bildung gehört und weil es für die Gesellschaft nicht gleichgültig ist, in welche Richtung sich ihre Mitglieder „bilden“. Und sie stellt sich zweitens, weil die Vorbereitung der jungen Generation auf die Übernahme von Verantwortung ein zentrales ethisches Anliegen darstellt, dessen Wahrnehmung nicht dem Zufall und auch nicht dem business as usual überlassen bleiben darf – erst recht nicht heute, wo unsere Gesellschaft sich einer Reihe von Herausforderungen gegenüber sieht, die in ihrer Art früheren Generationen unbekannt waren, heute aber einen ethischen Positionsbezug geradezu herausfordern:
1. Multikulturelles Zusammenleben. Die Zunahme der kulturellen Heterogenität ist ein gesamteuropäisches (und auch in anderen Teilen der Welt zu beobachtendes) Phänomen, auf das sich unsere Bildungsinstitutionen seit längerem in unterschiedlicher Weise einstellen. Je vielfältiger die Herkunft der Schüler, desto vielfältiger auch die Lebensformen, Gewohnheiten, Überzeugungen, Wertesysteme und sozialen Erwartungen, die in einer Schule miteinander koordiniert und harmonisiert werden müssen. Die ethischen Fragen liegen hier auf der Hand: Schließt kulturelle Vielfalt eine Vielfalt der Regelungen ein? Oder kann sie mit einer einheitlichen Ordnung zusammen bestehen? Welche Wertgesichtspunkte haben bei interkulturellen Konflikten als verbindlich zu gelten? Soll das Bekenntnis zu einer Religion oder einer bestimmten Lebensweise auch dann frei sein, wenn ihre Ausübung Formen annimmt, die von anderen Gruppen als Zumutung erlebt werden? Aber wo liegt die Schwelle, hinter der wir etwas als Zumutung empfinden? Und wie signalisieren wir dies unserem Gegenüber, ohne es zu beleidigen? Oder dürfen wir über kulturelle Grenzen hinweg voneinander verlangen, an ungewohnten Lebensformen keinen Anstoß zu nehmen?
Auf höherer Ebene stellen sich noch grundsätzlichere Fragen: Gibt es so etwas wie Vorrechte der „Mehrheitskultur“? Wie weit soll oder darf umgekehrt der Minderheitenschutz gehen? Ist eingewanderten Minderheiten gleiches Gewicht einzuräumen wie Minderheiten, die „seit langem“ unter uns leben – den Basken in Spanien, den deutschsprachigen Südtirolern in Italien, den Elsässern in Frankreich, den Rätoromanen in der Schweiz?
Im interkulturellen Zusammenleben gewinnen soziale Fähigkeiten eine zusätzliche Dimension. Dies trifft insbesondere auf die Fähigkeit zu, die Befangenheit in der eigenen Perspektive zu überwinden und die eigene Person, die eigene Rolle, ja die eigene Lebensform kritisch von außen zu betrachten – kurz, auf die Fähigkeit zur „Dezentrierung“. Egozentrische und ethnozentrische Haltungen selbstkritisch zu erkennen und aufzubrechen, gehört zur Sozialkompetenz, die zu fördern eine der vorrangigen Aufgaben unseres zeitgenössischen Bildungswesens ist.
2. Globalisierung des Wettbewerbs. Die Entfernungen, über die hinweg wir kommunizieren, umspannen inzwischen Kontinente. Ebenso die Entfernungen, über die hinweg wir uns wirtschaftlich und technologisch austauschen. Wir leben wahrscheinlich in der spannendsten Periode seit Beginn der Geschichte: Wir wissen besser als alle Generationen vor uns darüber Bescheid, wie historische Gesellschaften gelebt haben. Und wir sind in der Lage, uns über die Gründe, weshalb bestimmte Gesellschaften überlebensfähig waren und andere nicht, ein umfassenderes Bild zu machen als die betreffenden Gesellschaften selber es jemals konnten.
Zugleich sehen wir uns aber in neue Abhängigkeiten und Unsicherheiten verstrickt. Keine Firma der Welt vermag sich zuverlässig vor Konkurrenten zu schützen – gleichgültig, in welcher geographischen Entfernung diese operieren. Eine Wirtschaftskrise in Nordamerika oder in Ostasien kann Europa in eine Rezession treiben. Der globale Wettbewerb spielt sich zudem auf abschüssigem Gelände ab: Zwischen einzelnen Ländergruppen besteht ein dramatisches Wohlstandsgefälle, das sich mittlerweile innerhalb der einzelnen Länder reproduziert. Je steiler das internationale Gefälle, desto stärker sind auch die Schub- und Sogwirkung, die es auf die Migration ausübt.
Der Wettbewerbsgedanke dominiert das Wirtschaftsleben. Er prägt die Mentalität der Menschen und durchdringt längst auch das Bildungswesen: Dessen Qualität wird heute weitgehend am Beitrag gemessen, den es zur Entwicklung des „Wirtschaftsstandorts“ Deutschland, Österreich oder Schweiz – also zu dessen internationaler Wettbewerbsfähigkeit – leistet.
Wettbewerb und Kooperation bilden einen Gegensatz, auch wenn beide sich oft durchdringen: Einerseits belebt der Wettbewerb die Kooperation: Ohne den Vergleich mit anderen, ohne das stete Streben danach, Besseres zu leisten als andere, droht der Einzelne in der Masse zu verschwinden. Andererseits braucht es Kooperation, um den Wettbewerb zu humanisieren: Ohne Kooperation wären Regeln zur Domestikation des Wettbewerbs wirkungslos. Kooperation setzt die Beachtung gemeinsamer Spielregeln und die Bereitschaft zur Rücksichtnahme voraus. Und, anders herum, in der Rücksichtnahme und der Regelbefolgung zeigt sich der Geist der Kooperation. Trotz aller Huldigungen an den Wettbewerb – für das friedliche Zusammenleben hängt vieles davon ab, dass dieser Geist sich nicht verflüchtigt. Auch im internationalen Rahmen wird es künftig mehr denn je auf die Fähigkeit und den Willen zur Kooperation ankommen.
3. Umsteigen auf Nachhaltigkeit. Gleichzeitig mit der Reaktion auf die Herausforderung durch die „kulturelle Vielfalt“ und durch den gesteigerten globalen Wettbewerbsdruck ist auch die Einsicht gewachsen, dass wir in ökologischer Hinsicht auf eine noch nie da gewesene Situation hinsteuern. Diese Situation hat viele Facetten: Die Weltbevölkerung hat sich innerhalb von hundert Jahren fast vervierfacht und die Lebenserwartung gleichzeitig praktisch verdoppelt. Der Bedarf an Ressourcen, einschließlich Wasser und Nahrungsmitteln, ist gewachsen, und zwar nicht bloß parallel zur Bevölkerungszunahme, sondern erheblich steiler: Die materiellen Ansprüche pro Person sind heute – im Weltdurchschnitt betrachtet – wahrscheinlich so hoch wie niemals zuvor in der Geschichte. Vor knapp vier Jahrzehnten wurden die „Grenzen des Wachstums“ zum Schlagwort. Beschränkte Ressourcen und nicht weiter ausdehnbare Flächen für die Nahrungsmittelproduktion überkreuzen sich inzwischen mit anderen Herausforderungen – Verschmutzung von Wasser, Luft und Böden, Artenschwund und einer extremen Ungleichverteilung… Und nun spielt auch noch das Weltklima verrückt.
Ist dies alles einfach Schicksal, oder zeigen sich darin die Folgen eines unangepassten Lebensstils? Wenn Letzteres zutreffen sollte – müsste das Bewusstsein der ökologischen Krise dann nicht einen Einfluss auf das Generationenverhältnis haben? Üblicherweise führen die Jungen den Lebensstil der Alten fort und strengen sich an, den Wohlstand weiter zu steigern. Doch inzwischen wirft der Lebensstil der älteren Generation einen Schatten auf die Zukunft, der auch die Perspektiven der jungen Generation verdüstert. Die Reaktion auf diesen Umstand kann und soll zwar nicht eine blinde Nachahmungsverweigerung sein. Aber die ältere Generation kann der jüngeren jedenfalls nicht mehr so einfach als Vorbild dienen. An Stelle des bisherigen Appells „Macht es nach!“ müsste es heute heißen: „Wiederholt nicht unsere Fehler!“
4. Die Geschichte beschleunigt sich. In der Generationenabfolge ist gesellschaftlicher Wandel normal, auch wenn er häufig erst in zeitlichem Abstand sichtbar wird. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Wandel indessen so sehr beschleunigt, dass er für uns alle, die wir diesen Wandel direkt miterleben, auch ohne zeitliche Distanz immer deutlicher spürbar geworden ist. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sind unsere Lebensgrundlagen in zunehmend kürzeren Abständen durch immer neue Erfindungen revolutioniert worden. Einst waren es Innovationen wie die Schallplatte, das Radio und das Telefon, das Auto und das Flugzeug; später das Penizillin, aber auch die Atombombe. Um die Jahrhundertmitte kam das Fernsehen dazu, in den Achtzigerjahren der PC, in den Neunzigern die Kommunikation via Internet und Mobiltelefon. Seither verschmelzen diese Errungenschaften zunehmend miteinander. Die Geschwindigkeit, in der sich der Informations- und wirtschaftliche Austausch rund um den Globus vollziehen, ist in letzter Zeit sprichwörtlich explodiert. Inzwischen bahnt sich mit der Gentechnologie eine weitere Veränderung unserer Lebensbedingungen an.
Manche dieser Veränderungen sind noch kurz bevor sie eintraten von niemandem vorhergesehen worden. Das gilt auch von den neuen Geißeln der Menschheit: von Aids und von jener historisch einzigartigen Pathologie, die das Selbstmordattentat darstellt.
Wie die Dinge stehen, klingt heute jede Anspielung auf eine „bewährte Tradition“ fast reaktionär. Mit dem Wandel Schritt zu halten, fällt Jugendlichen leichter als älteren Menschen. Sich in der virtuellen Welt des Cyber-Space zurechtzufinden, lernen die Jungen nicht von den Alten – im Gegenteil.
Wer ist unter diesen Umständen wessen Vorbild? Zwar spricht niemand davon, dass die Jungen den Alten Vorbild sein sollten. Aber warum eigentlich nicht? In punkto Anpassungsfähigkeit an rasche Veränderungen täten die Alten gut daran, von den Jungen zu lernen. Natürlich gibt es auch Domänen, in denen die Vorbildfunktion weiterhin in der gewohnten Richtung verläuft. Solche Domänen sind der soziale Umgang, die politische (oder besser ethische) Correctness. Aber Vorbilder sind die Alten nur noch in Teilbereichen. Der Anspruch, mit der ganzen Persönlichkeit für die jüngere Generation Modell zu stehen, erscheint anmaßend, ja weltfremd. Sind nicht, von den Medien gepuscht, Idole an die Stelle von Vorbildern getreten, und hat der Autoritätsbegriff nicht selbst seine Autorität verloren? Mutiert die Tradition nicht immer mehr zu einem Artikel der Folklore? Und hat nicht sogar der altbewährte Fortschrittsglaube seine Selbstverständlichkeit eingebüßt?
Wie stellen sich die Bildungsinstitutionen dieser Situation? Es ist bemerkenswert, dass die Schule praktisch immer noch weitgehend nach den Rezepten aus der Vergangenheit funktioniert: Ältere unterrichten Jüngere, zeigen, wie man’s macht, beurteilen, ob es die Jungen kapiert haben; sie legen fest, was diese wissen und können müssen, und prüfen, wie weit sie die Forderungen erfüllen. Schule, das ist, wenn Menschen, die ihre Lebenserfahrungen gestern und vorgestern gemacht haben, den jungen Menschen von heute helfen, sich auf die Herausforderungen von morgen und übermorgen vorzubereiten. Kein Wunder, dass die Bedingungen des Unterrichtens, aber auch die zu Unterrichtenden selber, schwieriger geworden sind. Die Maßstäbe, an denen ihr Können gemessen wird, stammen buchstäblich aus dem letzten Jahrtausend, und viele Jungen reagieren darauf, als trügen sie den Stempel „Datum abgelaufen“.
In der Tat: Welche Legitimität haben diese Maßstäbe? Dass inzwischen auch in Bildungsinstitutionen Qualitätsentwicklung betrieben wird, ist zu begrüßen. Aber Qualitätsentwicklung ist Output-orientiert und verfährt nach Maßstäben, die meistens unreflektiert vorausgesetzt werden. Die Qualität der Qualitätsentwicklung bedarf selbst einer Entwicklung. Das heißt, die Qualitätsmaßstäbe müssten selbst fortlaufend auf ihre Qualität und Tauglichkeit hin überprüft werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es für die Einführung einer systematischen ethischen Reflexion im Bildungs- und Erziehungsbereich eine Vielzahl von Gründen gibt – Gründe allgemeiner Natur ebenso wie epochenspezifische Gründe. Zu einer gänzlich ethikfreien Zone ist die Pädagogik zwar nie wirklich geworden – trotz ihrer fortschreitenden Emanzipation von der Kirche. Inzwischen lässt sich auch in der Pädagogik ein wachsendes Bedürfnis nach ethischer Reflexion beobachten. Doch die systematische Reflexion ethischer Fragen ist bis heute die Ausnahme geblieben. Das vorliegende Handbuch will dazu beitragen, diese Lücke zu schließen.
Sozialen Wandel hat es in menschlichen Gesellschaften immer schon gegeben, die Beschleunigung, mit der er sich heute abspielt, ist aber historisch einmalig. Seitdem die überlieferten Normen und Werte sich aus ihrer christlichen Verankerung gelöst haben, sind auch die Prämissen für die ethische Reflexion nicht mehr dieselben. Die einstige Funktion der Kirche, den Menschen für ihre Lebensweise eine Orientierung zu bieten, ist weitgehend an die Wissenschaften übergegangen. Weil diese aber vor allem deskriptiv und hypothetisch operieren, erklären sie sich für die Beantwortung von ethischen und Sinnfragen als nicht zuständig.
Das hat auch Vorteile: Die Ethik ist heute eine Domäne, für die keine besondere Institution verantwortlich zeichnet und zu der auch keine bestimmte Wissenschaft exklusiven Zugang beansprucht. Zur Ethik haben alle gleichermaßen Zutritt – zumindest alle, die bereit sind, sich auf Begründungen, Begriffsklärungen und Wertanalysen einzulassen. Anders gesagt, Ethik ist eine Domäne der Philosophie. Das bedeutet keineswegs, dass es hier keine Verbindlichkeit gäbe – die Rolle der Menschenrechte bietet dafür den besten Beleg –, nur entziehen sich die Fundamente, in denen diese Verbindlichkeit gründet, unseren Blicken. Letztlich liegen diese Fundamente in den Gesetzen und Bedingungen der menschlichen Kooperation – in Gesetzen, die allem historischen Wandel zum Trotz in ihrem Kern so unveränderlich sind wie die arithmetischen Grundgesetze.
Die Voraussetzungen gelingender Kooperation gilt es zu klären, und dazu bedarf es einer philosophischen Reflexion. Nicht zufällig bedienen sich auch Theologen, wenn sie Ethik betreiben, immer entschiedener der Philosophie. Aus diesem Grund wird in diesem Buch die Ethik nicht aus einer religiösen oder theologischen Sicht dargestellt, sondern ausschließlich, und in leicht fasslicher Weise, philosophisch entwickelt – und zwar immer sozusagen auf Augenhöhe mit entsprechenden pädagogischen und bildungstheoretischen Fragen. Die Ethik wird im ersten Teil entfaltet, pädagogische und bildungstheoretische Fragen dominieren im zweiten Teil. Beide Seiten bedingen einander.