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1.7. Moralische Rechte
ОглавлениеDie Klärung der Frage, was wir unter moralischen Normen verstehen, hat uns zum Begriff der Rechte geführt. Zwar wissen wir alle, was Rechte sind. Zum besseren Verständnis der Natur von Moral ist es aber sinnvoll, dieses Wissen noch etwas tiefer zu reflektieren.
In erster Annäherung kann man sagen: Hinter einem Recht verbirgt sich ein Anspruch, der von anderen anerkannt wird. Natürlich verdient nicht alles, was Menschen beanspruchen, die Anerkennung anderer. Wer verwöhnt ist, stellt automatisch höhere Ansprüche, als wer mit knappen Mitteln vorlieb nehmen muss. Es gibt auch Ansprüche, die wir an uns selber stellen – z.B. der Anspruch, seinen Beruf gut auszuüben oder eine besondere sportliche Leistung zu vollbringen, etwa den Montblanc zu besteigen. Doch keiner dieser Ansprüche begründet irgend ein Recht.
Hinter Rechten stehen also nicht bloße Ansprüche, sondern Ansprüche, die aus irgendeinem Grund schutzwürdig sind. Ein Recht stellt also einen geschützten Anspruch (einer Person oder einer Gruppe von Personen) dar. Wenn ich meiner Tochter verspreche, sie an einem bestimmten Tag ins Theater zu begleiten, dann begründet dieses Versprechen bei meiner Tochter den berechtigten Anspruch und also das Recht, dass ich mein Versprechen halte. Dieses Recht hat nur meine Tochter, und sie hat es nur mir gegenüber (Tugendhat 1993, S. 338f.). Davon zu unterscheiden sind Rechte, die jemand gegenüber vielen (oder allen) Personen hat. Privateigentum ist ein solches Beispiel. Schließlich gibt es Rechte, die auf Wechselseitigkeit gründen: In einem Vertrag (bei einer Eheschließung z.B.) gehen die Beteiligten eine Verpflichtung ein. Wechselseitigkeit kann auch zwischen einer Vielzahl von Personen, ja im Grenzfall zwischen allen Mitgliedern einer Gesellschaft bestehen: so etwa mit Bezug auf das Recht, nicht gedemütigt, nicht bestohlen oder stets mit Achtung behandelt zu werden. Die Schüler/innen einer Klasse haben das Recht, beim Arbeiten nicht gestört zu werden; dem entspricht, dass sie alle auch die Pflicht haben, sich entsprechend ruhig zu verhalten. Wo immer ein Recht allen Mitgliedern einer Gesellschaft zukommt, haben diese die Pflicht, dieses Recht auch bei allen anderen Mitgliedern zu respektieren. Dem Recht, nicht überfallen zu werden, korrespondiert die Pflicht, niemanden zu überfallen.
Es geschieht manchmal, dass wir auf den Schutz eines Rechts verzichten müssen – nämlich dann, wenn dieser Schutz die Verletzung eines höheren Rechtsguts mit sich bringt. Wenn Anne ihrer Tante versprochen hat, sie zu besuchen, aber unterwegs durch einen Verkehrsunfall aufgehalten wird und erste Hilfe leisten muss, so mutet sie ihrer Tante kein Unrecht zu. Sie hat sich in einer Pflichten-Kollision für die höherrangige Pflicht – Erste Hilfe zu leisten – entschieden. Anna darf von ihrer Tante erwarten, dass sie den höheren Rang des Rechts von Unfallopfern auf Erste Hilfe einsieht und deswegen das Motiv ihres Verhaltens gutheißt. Verweigert sich die Tante dieser Einsicht und macht sie ihrer Nichte Vorwürfe, so verhält sie sich starrsinnig und nicht so, wie wir es von einer moralisch sensiblen Person erwarten. Anna hat sich deswegen nichts vorzuwerfen – sie hat sich in der gegebenen Ausnahmesituation korrekt verhalten.
Diese Überlegung setzt allerdings voraus, dass die Betroffenen die Rechte (bzw. Werte), die im Spiel sind, in die gleiche Rangordnung bringen wie wir selber. Diese Voraussetzung ist nicht immer erfüllt, denn die Menschen orientieren sich an unterschiedlichen Wertordnungen, und es ist nicht erwiesen, dass es ein „absolut gültiges“ Wertesystem gibt, das die verschieden(st)en Wertvorstellungen verbindlich gegeneinander abzuwägen erlaubt. Wo es um Grundrechte geht, sollten die verschiedenen Werteordnungen allerdings übereinstimmen (zu den Werten vgl. Kapitel 2.2.).
Kasten 1.4.: Moral als System wechselseitiger Verhaltenserwartungen
Die „Logik“ der wechselseitigen Erwartungen lässt sich in drei Schritten rekonstruieren:
(1) Person A beansprucht zunächst gegenüber den Personen B, C, D usw. bestimmte Rechte, d.h. sie erwartet von ihnen, dass sie diese Rechte respektieren.
(2) A gesteht diesen Personen dieselben Rechte zu, d.h. sie respektiert ihnen gegenüber diese Rechte und unterwirft ihr Verhalten den notwendigen Einschränkungen.
(3) Zwischen den Verpflichtungen, die wir verschiedenen Personen gegenüber haben, können sich Pflichtenkollisionen ergeben, die es uns verunmöglichen, allen Verpflichtungen gleichermaßen gerecht zu werden. Sind dabei höherrangige Rechte im Spiel, so sollten wir uns an ihnen orientieren. Wir sind dann berechtigt, von den Anderen zu erwarten, dass sie unsere Entscheidung respektieren, selbst wenn sie davon negativ betroffen sind.