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1.2. Was ist „Ethik“?

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Auf diese Frage gibt es wiederum mehrere Antworten. Ethik ist erstens die Kunst, unter den gegebenen Verhältnissen ein Leben in Glück zu führen. Schon Aristoteles, auf den der Begriff „Ethik“ letztlich zurückgeht, hat ihn vor mehr als zwei Jahrtausenden in seiner Nikomachischen Ethik als die Lehre vom guten Leben bestimmt.

Zweitens steht Ethik für die kollektive Lebensgestaltung, das Ensemble an Sitten. In dieser zweiten Bedeutung wird das Wort „Ethik“ heute häufig in der Theologie verwendet (z.B. Lexikon 1995, Band.3, S. 899ff., Stichwort „Ethik“). Auch in dieser Bedeutung geht der Begriff auf Aristoteles zurück. Den beiden Bedeutungen von „Ethik“ liegen allerdings verschiedene griechische Wörter zugrunde: Das eine, „éthos“ (mit kurzem e) steht für Brauchtum, Sitte, Tradition und gewohnheitsmäßiges Verhalten. „Éthos“ ist das „Übliche“, „dasjenige, was sittlich ist, was sich gehört, was man tut“, ohne jedes Mal, wenn man es tut, eigens darüber nachdenken zu müssen (Böhme 2001, S. 268f.). Das andere Wort, „ēthos“ (mit langem ē) steht für den Charakter und die individuelle Gewohnheit. „Ethik“ hatte bei Aristoteles in erster Linie die Bedeutung von Charakterschulung, einschließlich Schulung der Umgangsformen. Dem entspricht in der heutigen Pädagogik die Schulung der Sozialkompetenz. Doch in diesem Sinn wird der Begriff „Ethik“ nur noch selten verwendet.

Zur ersten Bedeutung von „Ethik“ lässt sich der Zusammenhang auf folgende Weise herstellen: Ein wie gutes Leben jemand führt, hängt wesentlich davon ab, welche Charaktereigenschaften er ausbildet. Für den, der dauernd aneckt, ist es schwieriger, glücklich zu werden, als für den, der bei seinesgleichen immer gern gesehen ist.

Das Spektrum der Bedeutungen des Ethik-Begriffs ist damit noch nicht erschöpft. In einer dritten Bedeutung steht der Begriff für die Besinnung oder Reflexion auf gut und böse, gerecht und ungerecht, erlaubt und unerlaubt, kurz auf Moral. In dieser dritten Bedeutung tritt die Ethik zur Moral, zu den tradierten Sitten, zu den durch Religion überlieferten Lebensformen und auch zum juristischen Recht in ein reflexives Verhältnis: In der Ethik geht es darum, soziale Regeln gegeneinander abzuwägen, ihre Geltung zu begründen oder auch zu kritisieren. Indem wir Ethik betreiben, setzen wir uns mit den herrschenden Werten, den geltenden sozialen Regeln, den üblichen normativen Erwartungen auseinander. Wenn wir einer Person die Fähigkeit zusprechen, Verantwortung zu übernehmen, dann unterstellen wir ihr üblicherweise eine Reflexionskompetenz in diesem Sinne.

Von der Ethik gehen keine Vorschriften und keine Appelle aus. Ethik generiert auch keine Verbote, sie dient überhaupt nicht zur Festlegung von Normen. Deswegen ist das Wort „Ethik“ auch nicht mit den für den Begriff „Moral“ typischen negativen, „moralinsauren“ Konnotationen belastet.

Die ethische Reflexion dient der Stärkung eines selbständigen Urteils. Wer aus Einsicht und nicht aus Zwang das Richtige tut, handelt autonom – er bestimmt selber die Regeln seines Handelns. Diese dritte Ethik-Definition findet man gewöhnlich in der zeitgenössischen Philosophie. – Im Folgenden wird der Begriff „Ethik“ überwiegend in dieser Bedeutung verwendet.

Bildlich kann man die Beziehung zwischen Moral und Ethik so beschreiben, dass die Moral sozusagen das Parterre darstellt, in dem sich unser Leben abspielt, und die Ethik gleichsam die erste Etage, von der aus man auf das Parterre hinunterblickt.

In den meisten theologischen Wörterbüchern und Lexika trifft man über „Ethik“ längere Einträge an als über „Moral“. Letztere sind in der Regel kurz oder fehlen völlig (wobei „Moral“ häufig in der dritten Bedeutung der Tabelle 1.2. verstanden wird). In den philosophischen Wörterbüchern und Lexika ist die Lage umgekehrt: Längere Einträge über „Moral“ (im Sinne der ersten und zweiten Bedeutung in Tabelle 1.2.) sind häufig, und manchmal fehlen Einträge über „Ethik“.

Tabelle 1.2. Die unterschiedlichen Definitionen von „Moral“ und „Ethik“

Moral Ethik
1. Das Ensemble der Normen, denen die Mitglieder einer Gesellschaft zu folgen pflegen (wobei Nichtbefolgung als spezifischer moralischer Fehltritt beurteilt wird). 1. Die Reflexion auf Moral (bzw. auf soziale und juristische Normen allgemein). Begründung, Diskussion, auch historische Betrachtung usw. von Normen.
2. [wie 1.] Das Ensemble der Normen, denen die Mitglieder einer Gesellschaft zu folgen pflegen oder folgen müssen. 2. Die Reflexion auf das gute bzw. gelingende Leben – für den Einzelnen, aber auch für eine Gruppe oder Gemeinschaft.
3. Die persönliche Seite guten Handelns; Moral ist privat; jede/jeder hat ihre/seine „eigene Moral“, eigene Prinzipien. 3. Das System der Sitten und Bräuche einer Gesellschaft oder Gemeinschaft (bzw. ihrer Regeln und Normen). Ethik ist öffentlich.
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