Читать книгу Der Weg eines Erzdruiden - Thomas Nawroth - Страница 12
Weihe
ОглавлениеEin wirklicher Lichtblick jedes Jahres war der Sommer, denn dann machten sich meine Eltern mit uns Kindern auf den Weg in den Urlaub nach Oberfranken zur Familie meiner Mutter. Für mich war es die Zeit, in der ich der Enge und Tristesse des damaligen Ruhrgebiets wenigstens für ein paar Wochen entfliehen konnte. Ich freute mich auf das Wiedersehen mit all meinen Verwandten, da sie vollkommen anders mit mir umgingen, als meine eigenen Eltern das taten.
Auch 1969 machten sich meine Eltern zusammen mit meiner dreijährigen Schwester und mir auf die Reise zu dem kleinen Marktflecken Küps. Das heutige Autobahnnetz existierte damals noch nicht, weswegen wir acht Stunden unterwegs waren. Trotz der langen Fahrt fühlte ich mich wie im Paradies. Ein Grund dafür war, dass meine Mutter sich während dieser wenigen Wochen des Jahres völlig anders verhielt. Sie wirkte freundlicher, gelöster und weniger gereizt als sonst.
Jedes Mal, wenn wir bei meiner Patentante in Küps ankamen, bei der wir in den Ferien wohnten, tauchte ich in eine absolut andere Welt ein. Für die kommenden drei Wochen konnte ich mich frei bewegen und fühlte mich von Menschen umsorgt, die mich wirklich liebten. Darüber hinaus war ich von einer Landschaft umgeben, wie sie schöner nicht sein konnte. Ich blühte während dieser kurzen Zeit richtig auf. Die Geräusche der Natur und die Stille an den Abenden waren ein wirklicher Genuss für mich. Was für eine Wohltat, nicht die schrillende Straßenbahn hören zu müssen! In dieser Welt war ich umgeben von Wäldern, zuhause dagegen von eng aneinander gebauten, hohen Häusern. Während ich den Rest des Jahres dem unerträglichen Gestank des Verkehrsstroms ausgesetzt war, befand ich mich hier inmitten von riesigen Kornfeldern und ausgedehnten Wiesenlandschaften mit Tausenden von bunten Blumen.
An einem dieser wunderschönen Tage war unsere ganze Familie in der Wohnküche meiner Patentante versammelt. Plötzlich kniete sich meine Großmutter nieder und bat mich, zu ihr zu kommen. Als ich vor ihr stand, legte sie mir ihre rechte Hand auf den Kopf, die linke Hand hatte sie auf den Fußboden gestützt. Ich war völlig verwirrt und wusste nicht, wie mir geschah. Plötzlich begann sie in einer mir unbekannten Sprache etwas vor sich hinzumurmeln, das ich nicht verstehen konnte. Nach ungefähr fünfzehn Minuten war der Spuk schließlich vorbei.
Als sich meine Großmutter wieder erhoben hatte, drehte ich mich um und sah die ganze Familie hinter mir stehen (Patentante, Großvater, Vater und meine Schwester auf dem Arm meiner Mutter). Ich wusste nicht, was da soeben vor sich gegangen war, doch intuitiv verstand ich, dass es etwas Außergewöhnliches gewesen sein musste. Meine Patentante gab schließlich die Antwort auf meine ungestellte Frage:
„Weißt du, was du da gerade erhalten hast? Es ist die Hexenweihe. Das ist etwas ganz Besonderes. Das bekommt nicht jeder. Du wirst merken, dass du schon bald viele Dinge wissen, sehen und hören wirst, die anderen Menschen verborgen bleiben. Du hast ein ganz besonderes Geschenk von deiner Großmutter erhalten!“
Ich stand noch immer wie versteinert da und konnte mit den Worten meiner Patentante gar nichts anfangen. Mein Blick fiel in diesem Moment auf das Gesicht meiner Mutter, in dem sich maßlose Enttäuschung spiegelte, als sie sagte: „Warum hat er das bekommen, warum nicht ich?“ Dann wendete sie sich vollkommen frustriert ab.
Bereits drei Tage später nahm ich intensiv wahr, dass sich in meinem Inneren etwas drastisch zu verändern schien. Mit jedem neuen Tag spürte ich es nun mehr, sodass es mir schon unheimlich wurde. Bald konnte ich mich den Personen um mich herum kaum noch mitteilen.
Meine Großmutter, die selbst als „Hexe“ geweiht war, übersprang bei der Weitergabe ihrer übernatürlichen Fähigkeiten eine Generation und übertrug sie auf mich. Möglicherweise hatte sie aus dem unsichtbaren Geistraum dazu Anweisung erhalten oder die „Berufung“ auf mir „gesehen“. Schließlich hatte sie miterlebt, dass mir als Dreijährigem meine Urgroßmutter nach ihrem Tod begegnet war. Vielleicht hielt sie aber auch meine auf sich selbst bezogene Mutter nicht für würdig, die Weihe zu empfangen.
Es war das letzte Mal, dass ich meine Großmutter physisch sah. Sie starb ein Jahr später. Vielleicht auch, weil sie das geahnt hatte, hielt sie den Zeitpunkt für gekommen, ihre Weihe weiterzugeben, um sie zu bewahren.
Hexen, Druiden, Schamanen und andere Menschen, die sich der Geistwelt bewusst sind, „bewegen“ sich im Geist in diesem unsichtbaren Raum um uns herum. Sie haben eine Fähigkeit und üben sich darin, die Geistwesen dieser anderen Welt wahrzunehmen und ihnen zu begegnen. Sie empfangen „Informationen“ aus diesem Bereich und bekommen häufig auch Handlungsanweisungen. Es ist ihnen bis zu einem gewissen Grad möglich, aus dieser unsichtbaren Dimension heraus zu handeln. Allerdings ist das noch nicht „das Ende der Fahnenstange“. Es gibt eine Autoritätsebene über dieser Geistwelt. Wenn man diese kennt, muss man nichts anderes mehr fürchten. Doch davon später.