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Abschied von der Großmutter
ОглавлениеZuhause vergingen mehrere Tage, bis ich mich wieder an das triste Leben in unserer Stadt Herne mit ihren vielen Fabriken, Zechen und schäbigen, völlig verdreckten Hinterhöfen gewöhnt hatte. Was mein Leben besonders erschwerte, war auch der ewige Streit meiner Mutter mit ihrer Schwiegermutter. (Meine Großeltern väterlicherseits lebten eine Etage höher im selben Reihenhaus.) Es gab keinen Tag, an dem sie sich nicht lauthals stritten, was den Hass meiner Mutter immer mehr schürte. Am Ende eines jeglichen Streits, ließ sie ihre Wut und Frustration und auch ihren Egoismus grenzenlos an mir aus. Schon der kleinste „Fehler“ meinerseits war Anlass für sie, ihn mir mit unbarmherzigen, absolut brutalen Schlägen „auszutreiben“.
In einer Novembernacht des Jahres 1969 bemerkte ich mit einem Mal eine „Präsenz“ neben meinem Bett. Ich öffnete meine Augen und sah in das Gesicht meiner Großmutter mütterlicherseits, die doch Hunderte von Kilometern entfernt in der Wohnung meiner Patentante in Oberfranken wohnte und von der ich erst vor ein paar Monaten die Hexenweihe erhalten hatte. Wie konnte das sein, dass sie plötzlich hier neben meinem Bett stand? Mit ihrer Hand streichelte sie mir über die Wange. Obwohl es stockdunkel im Zimmer war, konnte ich ihr Gesicht sehen, das von einem weißen Kopftuch mit großen schwarzen Punkten umrahmt war. Ich erkannte auch ihr dunkelblaues Kleid mit den kleinen, weißen Punkten. Plötzlich verschwand ihr Gesicht wieder in der Dunkelheit des Zimmers. Sofort spürte ich, wie sich in meinem Kopf immer intensiver ein Gedanke manifestierte: Meine Großmutter lag im Sterben und hatte sich von mir verabschiedet.
Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich aus meinem Kinderbett auf, öffnete die schwere Holztür des Zimmers und lief in das benachbarte Wohnzimmer, in dem meine Eltern noch saßen.
Es muss für meine Mutter ein Schock gewesen sein, als ich ihr aufgeregt zu verstehen gab, dass Oma gerade gestorben war. Ich hatte es kaum ausgesprochen, als sie auch schon wütend vom Sofa aufsprang, um mir einen schmerzhaften Schlag aufs Hinterteil zu verpassen. Dabei schrie sie: „Ich glaube du spinnst wohl! Mach, dass du ins Bett kommst! So etwas will ich nie mehr von dir hören!“ Weinend rannte ich zurück ins Bett, wo ich nach einigen Minuten wieder einschlief.
Plötzlich wurde ich durch das Schrillen des Telefons geweckt. Ich wusste sofort, dass es meine Patentante sein musste. Nur wenige Sekunden später begann meine Mutter fürchterlich zu weinen. Mein Vater begab sich kurz darauf zu seinen Eltern, ein Stockwerk höher. Noch immer im Bett liegend, hörte ich mit an, wie ein lauter Streit zwischen meinem Vater und seiner Mutter ausbrach, in den sich dann auch noch meine Mutter einmischte. Die Keiferei im Treppenhaus wurde so laut, dass ich mir die Decke über den Kopf zog.
Dann flog plötzlich die Kinderzimmertür auf. Offensichtlich hatten meine Eltern die Großeltern gebeten, meine Schwester und mich bei ihnen lassen zu dürfen, um nach Oberfranken fahren zu können, doch diese hatten abgelehnt, mich zu betreuen. Meine kleine Schwester durfte jedoch bei ihnen bleiben. Also mussten meine Eltern mich wohl oder übel mitnehmen. Unwirsch befahl meine Mutter mir, mich anzuziehen.
Nur eine Stunde später saß ich mit meinen Eltern zusammen in unserem VW-Käfer und fuhr mit ihnen durch die eisige Winternacht. Aufgrund der widrigen Verhältnisse dauerte die Fahrt viele Stunden. Es begann schon hell zu werden, als wir die Wohnung meiner Patentante in Küps erreichten. Als sie uns die Tür öffnete, konnte ich in ihr verweintes Gesicht blicken.
Nur wenige Augenblicke später saßen wir mit meinem Großvater und meiner Patentante am Tisch der einfachen Wohnküche. Auf einmal erzählte meine Patentante, dass meine Großmutter, bevor sie gestorben war, immer wieder meinen Namen gerufen habe. Als meine Mutter sie daraufhin fragte, wann das gewesen sei, war die Antwort: Zwischen 22 und 23 Uhr des Vortages. Als ich nun erzählte, dass ich die Oma in der letzten Nacht neben meinem Bett habe stehen sehen, versetzte dies meinen Eltern einen derartigen Schock, dass ihre Gesichter sekundenlang erstarrten. Und auch ich war von diesem Ereignis mehr als verwirrt.
Im unsichtbaren Geistraum ist es möglich, entgegen den natürlichen Gesetzen von Raum und Zeit an einem anderen Ort „zu erscheinen“. Es gibt Verbindungen, die nicht an die Materie gebunden sind (so wie man manchmal erlebt, dass man in Gedanken mit jemandem verbunden ist und er ruft kurz darauf an). Auf diese Weise kann auch ein „Bild“ oder die „Projektion“ einer Person „erscheinen“, die mir in meinem Fall sogar über die Wange streicheln konnte, sodass ich es körperlich wahrnahm. Dadurch, dass ich die Hexenweihe empfangen hatte, konnte meine Großmutter auf diese Weise mit mir in Kontakt treten. Ihr Körper lag im Fränkischen auf ihrem Bett. Aber ihr Geist war zu mir „gewandert“, um sich von mir zu verabschieden, mir möglicherweise auch einen letzten „Segen“ zu hinterlassen, da ich ihr geistliches Erbe antreten sollte.