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Geistwanderung und Todesankündigung
ОглавлениеWeihnachten lag bereits weit hinter uns, als ich wieder einmal mitten in der Nacht von irgendetwas geweckt wurde. Vorsichtig öffnete ich meine Augen und sah direkt neben mir eine sehr große, hellstrahlende Lichtsäule stehen, die bis an die Decke des Kinderzimmers reichte. Sie schien kleine Funken in die Dunkelheit zu versprühen. Auch konnte ich in der sehr breiten Säule schemenhaft etwas erkennen, das wie eine Person aussah, geradeso, als würde sich dieses Wesen darin hin und her bewegen. Und plötzlich hörte ich ganz deutlich die Worte in meinem Kopf: „Steh auf und folge mir! Habe keine Angst!“
Es war, als ob mich jemand aus dem Bett herauszöge, und ich stand mit einem Mal in meinem Schlafanzug neben dem Bett und wagte einen Blick um mich herum. Vor den Fenstern waren die schweren Holzrollläden herabgelassen, sodass nicht der kleinste Lichtstrahl hereindringen konnte. Auch die Zimmerlampe war aus. Trotzdem konnte ich alles im Zimmer sehen, als ob ich von hellem Licht umgeben wäre. Ich sah meine Schwester, wie sie tief schlafend in ihrem Bett lag, das auf der anderen Seite des gerade einmal 20 m² kleinen Zimmers stand. Ich blickte mich weiter um und sah mich plötzlich selbst in meinem eigenen Bett liegen. Wie war das möglich? Wie konnte ich neben meinem Bett stehen, wenn ich doch immer noch im Bett lag? Große Angst erfasste mich und ich wollte ins Bett zurückkehren. Doch gerade in diesem Moment hörte ich wieder die Stimme in meinem Kopf: „Hab keine Angst! Es wird dir nichts geschehen! Folge mir!“
Dieses Mal hatte ich genau auf den Klang der Stimme gehört, und sie erinnerte mich an jemanden, den ich aus meiner Familie kannte. Sie hatte den gleichen Klang wie die meines Großvaters väterlicherseits, jedoch viel jünger. Aber auch das konnte doch gar nicht sein, denn dieser lag zu dieser Zeit schwer erkrankt im evangelischen Krankenhaus. Meine Angst hatte sich aufgelöst, und ich hatte das Gefühl, dieser seltsamen Säule aus hellem Licht ungehindert folgen zu können. Ich beobachtete, wie die Lichtsäule durch die geschlossene, schwere Holztür des Kinderzimmers verschwand. Gerade als ich die Klinke der Tür ergreifen wollte, spürte ich, wie ich ebenfalls durch die Holztür in den Flur ging, wo die Lichtsäule auf mich wartete. Langsam bewegte sie sich in Richtung des Eltern-Schlafzimmers. Am Bett meiner Eltern blieb sie stehen, und in dem Licht der Säule konnte ich sowohl meine Mutter als auch meinen Vater tief schlafend daliegen sehen.
Kurz darauf bewegte sich die Lichtsäule erneut, dieses Mal so dicht an mir vorbei, dass uns nur wenige Zentimeter voneinander trennten. Erst jetzt bemerkte ich, dass dieses Licht weder heiß noch kalt war. Es war einfach nur – Licht. Nachdem wir das elterliche Schlafzimmer verlassen hatten, bewegte sich das seltsame Gebilde auf das Wohnzimmer zu. Erneut trennte uns eine Tür vom Innenraum. Auch diese durchdrang die Lichtsäule, ohne sie zu öffnen. Wie ich es bereits von der Kinderzimmertür gewohnt war, tat ich es der Lichtsäule gleich. Doch mit dem, was mich dann erwartete, hatte ich nicht im Geringsten gerechnet.
Ich schaute mich um und sah auch hier die Holzrollläden heruntergelassen. Dennoch konnte ich jede Kleinigkeit erkennen. Und erst jetzt sah ich mitten im Zimmer einen Sarg stehen, der aus hellem Eichenholz gefertigt war. An den Seiten befanden sich mächtige Messinggriffe, und den Deckel zierte ein Kreuz mit Korpus.
Was hatte das nun zu bedeuten? Wie kam dieser Sarg in unser Wohnzimmer? Erstarrt vor Schreck stand ich da, als auf einmal der Deckel des Sarges zur linken Seite rutschte. Mein Großvater väterlicherseits lag darin. Er war mit einem schwarzen Anzug, einem weißen Hemd, einer silbernen Krawatte mit hellen kleinen Punkten darauf, schwarzen Strümpfen und schwarzen Schuhen bekleidet. Um seine gefalteten Hände schlang sich sein Rosenkranz.
Plötzlich war ich von Dunkelheit umgeben. Die Lichtsäule war übergangslos verschwunden und mich ergriff eine unsagbare, panische Angst. Voller Entsetzen rannte ich zur Tür des Wohnzimmers und konnte diese wie zuvor, genauso wie die Kinderzimmertür, ungehindert passieren. Obwohl es nun stockdunkel im Zimmer war, konnte ich mich selbst noch immer in meinem Bett liegen sehen. Es schien mir gerade so, als würde mein Körper, der dort im Bett lag, regelrecht leuchten.
Bei alledem hatte ich nur noch einen Gedanken: Nichts wie zurück ins Bett! Dabei achtete ich gar nicht mehr auf die Umgebung und stieß mit meinem linken großen Zeh an einen der massiven Holzfüße der beiden Bänke, die sich zwischen dem Bett meiner Schwester und meinem eigenen befanden. Es war einfach verrückt. Ich legte mich im Grunde genommen auf mich selbst, ohne das zu verstehen. Und erst einige Sekunden später hatte ich das unbestimmte Gefühl, als hätte ich stundenlang nicht geatmet. Ich war schweißgebadet und – mein linker großer Zeh schmerzte fürchterlich.
Was war hier gerade geschehen? Wie konnte ich mir meinen großen Zeh verletzen, wenn ich mich körperlich gar nicht aus dem Bett hinausbewegt hatte? In dieser Nacht wagte ich mich nicht mehr einen Zentimeter zu rühren. Es war warm. Der Schweiß lief mir am Körper nur so herunter. Doch ich wagte es nicht, mich unter der Bettdecke hervorzubewegen.
Wie üblich wurden wir auch an diesem Morgen wieder von unserer Mutter geweckt. Erstaunt bemerkte sie, wie verschwitzt ich war. Noch mehr wunderte sie sich, als sie meinen dunkelblau gefärbten, blutunterlaufenen Zeh erblickte. Es war Dienstag, der 25. März 1975. Ich weiß heute nicht mehr, wie ich den Schultag überstand. Doch als unsere Familie abends wieder am gemeinsamen Tisch saß, hatte ich mit einem Mal das Gefühl, als würde ich mich erneut aus meinem Körper hinausbewegen. Ich sah mich selbst tatsächlich rechts neben meinem Vater am Tisch sitzen und hörte auf einmal, wie folgende Worte aus meinem Mund hervorkamen: „Heute in einem Jahr wird dein Vater sterben!“
Die schallende Ohrfeige meines Vaters und der darauffolgende Schmerz waren es letztendlich, die mich wieder zur Besinnung kommen ließen. Nun konnte ich meinen Vater, der links von mir am Wohnzimmertisch saß, wütend sagen hören: „Wie kannst du so etwas nur sagen? Das macht man nicht! Los, geh ins Kinderzimmer! Heute will ich dich nicht mehr sehen!“
Das Einzige, was ich unter Tränen noch hervorbringen konnte, war: „Aber wenn es doch wahr ist!“
Mir blieb nichts anderes übrig, als der Aufforderung meines Vaters nachzukommen. Es war genau 19 Uhr gewesen, als es zum Eklat zwischen meinem Vater und mir gekommen war. Hungrig und mit Kopfschmerzen, wie ich es bereits gewohnt war, begab ich mich ins Bett. Was mich besonders verwunderte, war die Tatsache, dass ich keine richtige Trauer mehr empfand. Ich hatte keine Tränen mehr. Hunger und Schmerzen jeglicher Art waren für mich inzwischen zur Normalität geworden. Ich fühlte mich im Grunde genommen gar nicht mehr.
So wie meine Großmutter im Geist zu mir gekommen war, konnte mein Geist nun auch selbst aus meinem Körper heraustreten, um sich unabhängig von meinem Körper und ungehindert von jeglicher Materie umherzubewegen. Es war das „Lichtwesen“ aus der unsichtbaren Welt, das mich dazu anleitete. Aus heutiger Sicht weiß ich, dass es ein Engel war. Es sprach wie mit einer jüngeren „Stimme“ meines Großvaters und zeigte mir dessen in der Zukunft liegenden Tod. Auch mein Vater erfuhr durch dieses Engelwesen, das durch mich sprach, vom baldigen Tod seines Vaters.