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Kommunion und noch ein Abschied

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Nur wenige Monate später feierten wir meine „erste heilige Kommunion“. An diesem Tag freute ich mich, endlich auch einmal andere Menschen um mich herum zu haben, außer meinen Eltern. Dadurch, dass Leute bei uns waren, benahmen sich meine Eltern mir gegenüber, wie es eigentlich in einer intakten Familie normal sein sollte. Ich genoss diesen Tag in vollen Zügen. Kurze Zeit danach wurde ich Messdiener in unserer Heimatgemeinde, der Herz-Jesu-Kirche. Für eine gewisse Zeit schienen sich meine Lebensumstände innerhalb der Familie gebessert zu haben. Doch dann erfüllte sich die Prophezeiung.

Donnerstag, 25. März 1976. Seit Monaten lag mein Großvater bettlägerig im evangelischen Krankenhaus von Herne. Den ganzen Tag über hatte ich schon das unbestimmte Gefühl, dass etwas Außergewöhnliches geschehen würde. Genau um 19 Uhr klingelte plötzlich das Telefon. Ich sah meinen Vater sehr intensiv an und sagte ihm geradewegs ins Gesicht: „Papa, das Telefongespräch ist für dich ganz persönlich. Geh bitte hin und höre, was man dir zu sagen hat!“

Er ging in den Flur und hob den Hörer ab. Ich wusste sofort, dass es das evangelische Krankenhaus war, um meinem Vater die traurige Mitteilung zukommen zu lassen, dass soeben sein Vater verstorben sei – so wie ich es ganz genau ein Jahr zuvor vorausgesagt hatte. Ganz langsam legte mein Vater den Hörer auf die Gabel zurück, drehte sich zu uns um, und unter Tränen, die ihm mit einem Mal über das Gesicht rollten, sagte er langsam: „Opa ist gerade gestorben!“

Obwohl ich es im Voraus gewusst hatte, konnte ich nun nicht mehr an mich halten. Ich schrie vor Trauer, ließ mich auf mein Bett fallen und schluchzte meinen ganzen Schmerz in die Kissen. Ich hatte den besten Freund, den ich je hatte, für immer verloren. Denn mein Großvater hatte, im Gegensatz zu all den anderen, immer zu mir gehalten, egal was auch geschehen war. Ich ließ mich nicht davon abbringen, mit meinen Eltern noch an diesem Abend ins Krankenhaus zu fahren, um dort ein letztes Mal meinen über alles geliebten Freund zu umarmen, mich von ihm zu verabschieden, so wie es bei richtigen Freunden üblich ist.

Im Krankenzimmer meines Großvaters stand sein Bett vollkommen allein mitten im Zimmer. Meine Großmutter war ebenfalls mitgekommen. Auch sie war völlig in Trauer aufgelöst, weinte und schluchzte fürchterlich. Ein letztes Mal stellte ich mich rechts neben meinen Großvater und legte meine Arme um seinen Kopf. Mir gegenüber stand mein Vater und sah mich voller Entsetzen an. Alles, was er in diesem Moment hervorbringen konnte, waren die Worte: „Junge, woher wusstest du das nur so genau vor einem Jahr?“

Plötzlich spürte ich, wie sich jemand oder etwas hinter mich zu stellen schien, ohne dass ich auch nur das Geringste sehen konnte. Aber ich glaubte mit einem Mal auf meinen Schultern die Hände einer „Wesenheit“ zu spüren. Auf einmal durchflutete mich eine Art Liebe, wie ich sie bis dahin noch nie erfahren hatte. Und dann geschah etwas, das ich bis heute nicht begreifen kann.

Ich hatte das unbestimmte Gefühl, als würde ich mich in Bruchteilen von Sekunden völlig verändern. Ohne dass ich es selbst steuern konnte, richteten sich plötzlich liebevoll, jedoch durchdringend und sehr deutlich, folgende Worte aus meinem Mund kommend, an meinen Vater: „Glaube mir, das, was ich dir ab heute sagen werde, wird geschehen!“

Nur wenige Augenblicke später spürte ich, wie sich diese „Hände“ von meinen Schultern langsam wieder lösten und das Gefühl der Präsenz hinter mir genauso plötzlich verschwand, wie es gekommen war. Wieder bei mir, blickte ich in das tränenüberströmte Gesicht meines Vaters. Das schiere Entsetzen stand darin. Wie mochten ihm diese Worte aus dem Mund seines Kindes vorgekommen sein? Ob er wohl realisierte, dass ein anderes „Wesen“ aus mir gesprochen hatte? Ich vernahm plötzlich den Duft von Weihrauch und Rosen. Doch das wunderte mich nicht einmal mehr. Die unsagbare Traurigkeit, von der ich zuvor ganz eingenommen gewesen war, sie war mit einem Mal verschwunden. Ich fühlte mich in einer Art und Weise getröstet, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Noch immer hatte ich die Worte, die mir – von wem auch immer – eingegeben worden waren, in meinem Kopf: Glaube mir, das, was ich dir ab heute sagen werde, wird geschehen!

Ich weiß nicht, wie lange unsere Familie in dem Sterbezimmer zugebracht hatte. Doch als ich in der Türöffnung des Zimmers stehenblieb, um mich noch einmal nach meinem Großvater umzusehen, wurde mir bewusst, dass sich etwas in mir verwandelt hatte, aufgrund dessen ich in der Lage war, die Welt um mich herum ganz anders wahrzunehmen, als das anderen Menschen möglich ist.

Aus heutiger Sicht erachte ich es als ein Geschenk, das ich durch die Fürbitte meines geliebten Großvaters von Gott erhalten habe. Bis heute fühle ich mich immer wieder auf eine ganz besondere Weise getröstet und behütet, besonders in Situationen, die sehr schwer sind. Wie sehr ich das in der Zukunft benötigen würde, wusste ich zum damaligen Zeitpunkt noch nicht.

Wenige Tage später fand die Beerdigung meines geliebten Großvaters statt. Bevor er zu Grabe getragen wurde, konnten die Angehörigen noch einmal persönlich Abschied nehmen. Hierzu wurde uns ein Raum zur Verfügung gestellt, in dem mein Großvater im Sarg ohne Deckel noch einmal aufgebahrt wurde. Für mich war es keine Überraschung, dass ich ihn in genau der Garderobe darin liegen sah, wie ich es bereits ein Jahr zuvor gesehen hatte. Meinem Vater hingegen wurde es ganz anders, als er neben mir in der Friedhofskapelle stand und ich ihm noch einmal die Worte zusprach: „Glaube mir, das, was ich dir ab heute sagen werde, wird geschehen!“ Wie groß sein Entsetzen war, äußerte sich darin, dass er mir langsam sein tränennasses Gesicht zuwandte und mich lange und mit dem Ausdruck absoluten Unverständnisses anblickte. Fast unhörbar hauchte er nun hervor: „Um Himmels willen. Wer bist du wirklich?“

Dann sank sein Kopf nach unten und er begann fürchterlich zu weinen. Ich bin mir sicher, dass ihm in diesem Moment viele Fehler der Vergangenheit bewusstwurden, die jetzt – nach irdischen Maßstäben – nicht mehr zu revidieren waren. Leider nutzte er die Gelegenheit nicht, sein Leben zu ändern und nach dessen wirklichem Sinn zu fragen. Er blieb weiter seiner Oberflächlichkeit und Schwäche verhaftet.

Ich löste mich langsam aus der Trauergesellschaft um den Sarg. Bevor ich in den Hauptraum der Friedhofskapelle zurückging, sagte ich noch: „Leb wohl Opa. Wir sehen uns wieder!“

Ich begab mich in die Sakristei, um mir dort das Rochett der Messdienerkluft überzuziehen. Es war die letzte Ehre, die ich meinem geliebten Großvater erweisen wollte: als Messdiener bei seiner Beerdigung zu dienen. Es war für mich einer der traurigsten Tage meines Lebens. Ich hatte den besten Freund verloren. Immer wieder kreisten meine Gedanken um eine einzige Frage: Wo befand sich mein geliebter Großvater nun? Bis heute denke ich an ihn. Und das wird auch so bleiben, bis zu meinem eigenen Lebensende.

Der Weg eines Erzdruiden

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