Читать книгу Raum in Bewegung - Thomas Poser - Страница 11

1.3.4 Mythisches Erzählen als Medium kultureller Selbstbeobachtung

Оглавление

Literarisches Erzählen kann also in formaler Hinsicht Merkmale genuiner Mythen aufweisen und insofern ›mythosanalog‹1 oder ›mythomorph‹2 strukturiert sein, während es sich hinsichtlich seiner Funktion und Pragmatik von diesen abhebt. Anders, als es die Tendenz der gegenwärtigen mediävistischen Mythosforschung vermuten ließe, sind diese mythomorphen Strukturen aber keineswegs auf narrative Motivationsstrukturern beschränkt,3 sondern betreffen potentiell sämtliche Ebenen der Erzählung, nicht zuletzt also auch die semantische Struktur der Instanzen, Figuren und Objekte der erzählten Welt. Die mythischen Strukturmuster bleiben dabei als solche erhalten, wie sie aber semantisch besetzt werden, hängt von dem jeweiligen Kontext ab, innerhalb dessen sie aktualisiert werden.4

Das erlaubt nun spezifischere Überlegungen dazu, worin eigentlich die Faszinationskraft mythischer Stoffe und Traditionen in einem kulturellen Kontext bestanden haben könnte, der sich selbst doch als dezidiert ›nach-mythisch‹ und christlich-aufgeklärt verstand. Wenn im oben dargelegten Sinne die Funktion literarischen Erzählens darin liegt, die jeweils herrschenden kulturellen Ordnungsvorstellungen in einem von anderweitig geltenden Referenzzwängen entlasteten Raum zur Reflexion zu bringen, dann gewinnt die nicht-zweiwertige Logik des Mythos überall dort an Signifikanz, wo die entsprechenden kulturellen Sachverhalte sich einer widerspruchsfreien (Selbst-)Beschreibung auf der Basis zweiwertiger rationaler Modelle entziehen. Die literarische Imagination vermag dabei auch dasjenige zu integrieren, was der symbolischen Ordnung der jeweiligen kulturellen Formation tendenziell entgegensteht, was sie aus ihren Sinnentwürfen ansonsten auszugrenzen bemüht ist, um nicht ihres eigenen Geltungsanspruchs verlustig zu gehen. Die Sinnsetzungen und Normen der symbolischen Ordnung können in der literarischen Imagination, verstanden als »textuelle[r] Welt zweiter Ordnung«5, nicht nur – wie es die Theorie sujethaltigen Erzählens nach LOTMAN vorsieht –, spielend übertreten, sondern probehalber sogar gänzlich aufgelöst und durch neue, eigengesetzliche Sinnbezüge substituiert werden.6 Hier wird die nicht-zweiwertige und widerspruchstolerante Logik des Mythos zentral: Denn wenn die primäre weltmodellierende Funktion des Mythos verlorengeht, wird sein Sinnbildungspotential frei, um das in der symbolischen Ordnung noch Unbewältigte und vielleicht Unbewältigbare zwar nicht ›rational‹ aufzuarbeiten, aber doch immerhin in eine narrative Gestalt zu bringen und insofern zumindest kommunikativ handhabbar zu machen.

Eine solche Sichtweise klammert gewissermaßen die von Florian KRAGL aufgeworfene Frage ein, ob in den alteritären Erzählweisen vormoderner Texte auch alteritäre Denkweisen greifbar werden.7 Denn sie bestreitet nicht grundsätzlich einen Zusammenhang zwischen Kognition und Narration – es gibt keine Erzählung, die nicht zuvor von irgendjemandem ›erdacht‹ worden wäre –, doch geht sie gleichsam von der ›bereichsspezifischen‹ Gültigkeit bestimmter Denkmuster aus. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden den implikationsreichen Begriff des ›mythischen Denkens‹ so weit als möglich vermeiden und stattdessen den neutraleren Ausdruck der ›mythischen Strukturlogik‹ wählen. Denn damit ist zwar ebenfalls auf das den beobachtbaren Erzählstrukturen vorausgehende abstrakte System logischer Verknüpfungen abgehoben, doch eben nur insoweit – und nur insoweit soll es hier interessieren –, als dieses auch aus den konkreten, uns vorliegenden Erzählungen zu rekonstruieren ist. Die heikle Frage, ob und inwieweit die beschriebenen Denkmuster im Mittelalter daneben auch in anderen Lebensbereichen eine Rolle spielten, scheint mir in diesem Zusammenhang vernachlässigbar.

Was aber sind nun die für die höfische Kultur um 1200 relevanten Sachverhalte, die in der literarischen Imagination thematisch werden und die in der spezifischen Strukturlogik des Mythos die ihnen adäquate Reflexionsform finden? Ansetzen lässt sich hier bereits auf der begrifflichen Ebene. Denn schon der Versuch, zu bestimmen, was eigentlich ›höfisch‹ bedeutet, scheint mit nicht wenigen Schwierigkeiten verbunden.

Es ist bezeichnend, dass der Terminus ›höfisch‹ in der kulturwissenschaftlichen Forschung zwar allerorts begegnet, doch kaum je expliziert wird. Das Problem liegt nicht allein in der doppelten Referenz des Begriffes, der einerseits den soziokulturellen Kontext bezeichnet, aus dem die entsprechenden Texte hervorgegangen und in welchem sie rezipiert worden sind, andererseits aber eine semantische Größe, die innerhalb der textuellen Weltentwürfe noch einmal vorkommt: Das ließe sich immerhin mit der systemtheoretischen Denkfigur des re-entry, des Wiedereintritts der Unterscheidung in das Unterschiedene, als dessen Medium die Literatur fungiert, theoretisch fassen.8 Schwieriger noch ist der Umstand, dass sich die einzelnen Konfigurationen dessen, was man als ›höfisch‹ bezeichnet hat und was die Texte auch expressis verbis ›höfisch‹ nennen, als äußerst heterogene Phänomene präsentieren.9 Das sei im Folgenden kurz erläutert.

Höfische Kultur ist gekennzeichnet durch Exklusivität, und zwar in ihrer materiellen wie in ihrer ideellen Dimension. Affektkontrolle und ritterliches Ethos zielen ebenso darauf, die moralische und kulturelle Überlegenheit der feudalen Oberschicht zu demonstrieren, wie repräsentative Prachtentfaltung und die Verfeinerung von Sprache und Umgangsformen. Das Höfische konstituiert sich selbst durch die Setzung einer Differenz, indem es alles, was störend wirkt am idealen Entwurf, auszuschließen sucht und dabei, im Akt des Ausschließens, seinen eigenen Gegenpol konstruiert. Erst vor der Folie seiner Negation, von der es sich abhebt und gegenüber der es seine Geltung stets aufs Neue zu behaupten hat, gewinnt das Höfische Kontur.10

Gleichzeitig aber schließen die Selbstentwürfe höfischer Kultur ihre (vermeintlichen) Negativkorrelate in paradoxer Weise immer wieder in sich ein. Einerseits weiß sich die höfische Kultur einem christlichen Gesellschaftsideal verpflichtet, das Gewalt allenfalls als Mittel der Friedenssicherung duldet, andererseits hat sie die Wertvorstellungen der feudalen Kriegergesellschaft, aus der sie erwachsen ist, nie völlig aufgegeben. Einerseits propagiert sie in ihren utopischen Weltmodellen die Vorstellung einer »Balance aller Kräfte«11, andererseits wird in ihr ein schier unbändiges Verlangen nach allem Superlativischen und Exorbitanten erkennbar, das jeder Kompromissbildung trotzt (stehts geht es um den ›Besten‹ und die ›Schönste‹). Vor diesem Hintergrund scheint es fast so, als ob die Verlegenheit der kulturwissenschaftlichen Mediävistik um eine eindeutige Begriffsbestimmung auf die Verlegenheit der ›höfischen‹ Kultur selbst verweist, die in immer neuen Anläufen dazu ansetzt, ja, dazu ansetzen muss, sich ihrer eigenen Identität zu vergewissern. Die Frage, was eigentlich das ›Höfische‹ ausmacht, treibt insofern nicht erst die moderne Forschung um, sondern offenbar auch schon die mittelalterlichen Autoren. Sie markiert gewissermaßen das Grundproblem, an der sich die ›höfische‹ Dichtung stets aufs Neue abarbeitet.

Das Höfische erscheint in diesem Sinne in der kulturellen Selbstbeobachtung der Zeit um 1200 als nicht mit sich selbst identische Größe. Von hier aus erklärt sich die strukturelle Affinität von Mythischem und Höfischem. Während die meisten Studien zur Mythizität mittelalterlicher Literatur Mythisches und Höfisches eher als dichotomes Begriffspaar behandeln12 (und damit den vielfältigen Gegenbegriffen des Höfischen noch einen weiteren hinzufügen), scheint es mir gerade auf diese strukturelle Nähe anzukommen. Es wird also danach zu fragen sein, wie die Texte jeweils ›mit dem Mythos arbeiten‹, um eben dieses – hier nur in aller Knappheit skizzierte – Problem immer wieder neu zu entfalten.

Raum in Bewegung

Подняться наверх