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1.4 Raum in Bewegung: Überlegungen zum Vorgehen 1.4.1 ›Raum‹ und ›Diskurs‹

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Zu diesem Zweck ist es unerlässlich, narratologische und kultursemiotische Perspektivierungen miteinander zu verbinden. Einerseits geht es um die Analyse der in den Texten beobachtbare Strukturmuster, andererseits sind diese narrativen Muster immer wieder auch auf den kulturellen Sinnhorizont ihrer Zeit zu beziehen, auf die Wissensordnungen und Diskurse, in die sie eingebettet sind und mit denen sie interagieren. Denn nur, indem man den historischen und kulturellen Rahmen mitberücksichtigt, innerhalb dessen sich das pragmatische Dreieck zwischen Autor, Text und Rezipient aufspannt, lassen sich die Sinnpotentiale eines Textes auch nur annähernd rekonstruieren.1

Das macht einige Bemerkungen zum Diskurs-Begriff erforderlich, der doch in der gegenwärtigen Diskussion so inflationär in Gebrauch ist, dass er jede Aussagekraft zu verlieren droht. Mir kommt es auf einen bestimmten Aspekt des Begriffes an, der einerseits dessen große Flexibilität und vielfältige Anwendbarkeit (und insofern vielleicht auch seine Beliebigkeit) ausmacht, andererseits aber auch bei einem methodischen Problem Rat verspricht, mit dem sich jede kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft auseinandersetzen muss: dass nämlich als Bezugshorizont der Texte zwar stets (auch) deren kultureller Kontext anzusetzen ist, dass dieser Kontext selbst jedoch nur aus – oft ebenfalls literarischen – textuellen Zeugnissen überhaupt erschließbar ist. Insofern läuft jede Text-Kontext-Modellierung Gefahr, zirkelschlüssig zu werden.2 So stellt Jan-Dirk MÜLLER an den Anfang seiner Studien zum Verhältnis von gesellschaftlichem ›Imaginären‹ und literarischer Imagination die Frage, »wie es […] kommt, daß bestimmte Motive, Themen, Erzählmuster nur eine Zeit lang literarisch produktiv sind und dann weitgehend aus dem Spektrum der Literatur (oft auch allgemeiner aus der öffentlichen Diskussion) verschwinden«3. MÜLLERs eigene Antwort, die er im Folgenden entwickelt: Auch das einem Erzählmuster zugrundeliegende kulturelle Muster verliert irgendwann seine Signifikanz, so dass das narrative Muster ins Triviale abgleitet und zuletzt gänzlich aus dem imaginären Haushalt der Kultur verschwindet. So überzeugend die These ist, methodisch kontrolliert absichern lässt sie sich nur schwer. Denn mit gleichem Recht könnten kritische Stimmen dagegenhalten, bestimmte Erzählmuster geraten möglicherweise nur deshalb ›außer Mode‹, weil an einem bestimmten Punkt schlicht alle Variationsmöglichkeiten desselben Musters durchgespielt sind und sein narratives Potential sich damit erschöpft. Den von MÜLLER postulierten Zusammenhang von Kultur- und Erzählmuster bräuchte man dazu gar nicht erst zu unterstellen.

Obwohl MÜLLER betont, dass sein Ansatz nicht an ›traditionelle‹ Gattungsgrenzen gebunden ist, diskutiert er, »der Vergleichbarkeit der Ergebnisse zuliebe«, in seinen Untersuchungen eben doch »hauptsächlich (nicht ausschließlich!) Beispiele aus dem ›höfischen‹ Roman‹«4, um diese gelegentlich mit ähnlich gelagerten Fällen aus Legende und Heldenepik (aber eben immer: aus erzählender Literatur) zu konfrontieren. Hier geht der Diskursbegriff noch deutlich weiter, steht er doch ›quer‹ zu jeder literarischen Taxonomie. So wie einzelne Gattungen die »Themen und Probleme verschiedener Diskurse aufgreifen und verknüpfen«, aber auch «die Rederregeln, die für unterschiedliche Diskurse charakteristisch sind, aufnehmen, miteinander kombinieren und gegeneinander ausspielen können«, so kann sich vice versa auch ein und derselbe »Diskurs verschiedener Gattungen bedienen«5, so dass sich einzelne Diskursstränge oft durch die unterschiedlichsten Gattungen und Textsorten hindurch verfolgen lassen. So abgenutzt der Diskursbegriff scheint, er bietet doch den Vorzug, dass er auch ungleichartige Texte in einen übergreifenden Zusammenhang zu stellen erlaubt. Und gerade dann, wenn bestimmte ›Themen und Probleme‹ innerhab eines gemeinsamen kulturellen Rahmens über die Grenzen unterschiedlichster Textsorten hinweg rekurrieren, wird es unwahrscheinlich, dass diese allein von literarischer Signifikanz sind und ansonsten in keinem Verhältnis zu symbolischen Ordnung der jeweiligen kulturellen Formation stehen (jedenfalls scheint mir die Beweislast dann bei den Kritikern zu liegen, die einen solchen Zusammenhang bestreiten). Zwar werden auch bei mir ›höfische‹ Erzähltexte im Zentrum stehen, doch werde ich aus diesem Grund immer wieder auch andere – lyrische und narrative, geistliche und weltliche, literarische und diskursive – Texte heranziehen, um vor ihrem Hintergrund bestimmte Sinnbildungsmuster des jeweils im Fokus stehenden Textes herausarbeiten zu können. In diesem Sinn ist es zu verstehen, wenn im Folgenden von ›Diskursen‹ die Rede ist.

Ansetzen könnte ein solcher Zugriff im Prinzip auf allen Ebenen der Erzählung, doch scheint sich die Kategorie des Raumes in besonderem Maße dazu anzubieten, und zwar nicht allein deshalb, weil ihr auch die unterschiedlichen mythostheoretischen Konzeptionen ein besonderes Gewicht beimessen.6 Entscheidender ist noch, dass in einem allgemeineren Sinne »zu jedem kulturellen Selbstversicherungsprozeß […] die sinnstiftende Organisation der räumlichen Umwelt«7 gehört, wie der spatial turn in den Geistes- und Kulturwissenschaften nachdrücklich gezeig hat. ›Raum‹ lässt sich dabei mit Alexander D. ALEXANDROV als »die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. dgl.)« beschreiben,

»zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen. (Ununterbrochenheit, Abstand u. dg.). Wenn man eine gegebene Gesamtheit von Objekten als Raum betrachtet, abstrahiert man dabei von allen Eigenschaften dieser Objekte mit Ausnahme derjenigen, die durch die gedachten raumähnlichen Relationen definiert sind.«8

Eine so gewendete Konzeption von ›Raum‹ ermöglicht Jurij LOTMAN zufolge die »Darstellung von Begriffen, die an sich nicht räumlicher Natur sind, in räumlichen Modellen«9. LOTMAN selbst liefert sogleich eine ganze Reihe von Beispielen:

»Bereits auf der Ebene der supratextuellen, rein ideologischen Modellbildungen erweist sich die Sprache räumlicher Relationen als eines der grundlegenden Mittel zur Deutung der Wirklichkeit. Die Begriffe ›hoch – niedrig‹, ›rechts – links‹, ›nah – fern‹, ›offen – geschlossen‹, ›abgegrenzt – nicht abgegrenzt‹, ›diskret – unterbrochen‹ erweisen sich als Material zum Aufbau von Kulturmodellen mit keineswegs räumlichen Inhalt und erhalten die Bedeutung: ›wertvoll – wertlos‹, ›gut – schlecht‹, ›eigen – fremd‹, ›zugänglich – unzugänglich‹, ›sterblich – unsterblich‹ u. dgl. Die allerallgemeinsten sozialen, religiösen, politischen, ethischen Modelle der Welt, mit deren Hilfe der Mensch auf verschiedenen Etappen seiner Geistesgeschichte den Sinn des ihn umgebenden Lebens deutet, stets mit räumlichen Charakteristiken ausgestattet Vorstellungen von ›hohen, erhabenen = erhobenen‹ und ›niederen, erniedrigenden‹ Gedanken, Beschäftigungen, Berufen; die Identifikation des ›Nahen‹ mit dem Verständlichen, Eigenen, Vertrauten, und des ›Fernen‹ mit dem Unverständlichen, Fremden – alls das fügt sich zusammen zu Weltmodellen, die deutlich mit räumlichen Merkmalen ausgestattet sind.«

Dieses abstrakte Verständnis von ›Raum‹, das topologische Ordnung mit kulturellen Axiologien verknüpft, korreliert mit Andreas RAMINs Unterscheidung eines »real existierenden Raum[es] von einem kognitiven Raum«, der sich »aus einem symbolischen Text zusammensetzt, der der Identitätsbildung, der Identitätssicherung und der Abgrenzung gegenüber anderen dient«10. Der ›kognitive Raum‹ im Sinne RAMINs ist eine mentale, teils individuelle und bloß subjektive, teils überindividuelle und intersubjektive (doch niemals völlig objektive) Repräsentation des ›realen‹ (= physischen) Raumes, welche sich mit bestimmten kulturell und historisch variablen Wert- und Ordnungsvorstellungen verbindet. Medium dieser so verstandenen ›symbolischen Raumorientierung‹ ist die Literatur. Die symbolische Ordnung einer Kultur manifestiert und konkretisiert sich demnach in der literarischen Imagination nicht zuletzt als räumliche Ordnung, so dass sich RAMIN zufolge aus den literarischen Konfigurationen des Raumes auch die jeweils dahinterstehenden »gesellschaftliche[n] Leitorientierungen«11 ablesen lassen. Als Beispiel eines solchen »Modell[s] räumlicher und kultureller Ordnung« nennt er die »identitätsstiftende Unterscheidung in höfischen Eigen- und wilden (Natur-)Fremdraum« im Hochmittelalter: »Der höfischen Burg als räumlichem und kulturellem Zentrum« stehe demnach »der um die höfische Kulturlandschaft gelegene Raum des Waldes gegenüber«12. Der literarische Raum steht zwar in Relation zum ›realen‹ Raum, genauer: kann Elemente des ›realen‹ Raumes in sich aufnehmen (hier etwa ›Burg‹ und ›Wald‹ als empirisch erfahrbare Größen der außerliterarischen Wirklichkeit), doch sind diese dann immer schon kulturell überformt und gedeutet (die Burg als ›höfischer‹ ›Eigen-‹, der Wald als ›wilder‹ ›Fremd-‹Raum usw.). In diesem Sinne sind literarische Räume immer auch ›Wissensräume‹13, und die räumliche Ordnung eines Textes gibt nicht nur das Setting für die Handlung ab, sondern wird selbst als textartig strukturiertes ›Symbolsystem‹ lesbar.14

Auf diese Interrelation von textuell verfassten, sich als räumliche Ordnung manifestierenden Symbolsystemen und übergeordneten kulturellen Symbolsystemen, die jeweils im Begriff des ›Diskurses‹ miteinander verschränkt sind, kommt es mir an. Dabei ist freilich der Raumbegriff im Anschluss an LOTMAN und RAMIN in zwei Punkten zu modifizieren, die sich im Grunde schon aus dem ergeben, was im Vorangegangen bereits gesagt wurde:

Erstens ist davon auszugehen, dass weder für die Beschreibung der narrativen Strukturmuster noch der in ihnen sich artikulierenden symbolischen Ordnungen zweiwertige Modelle, wie sowohl LOTMAN als auch RAMIN sie verwenden, hinreichen. Zwar gehe auch ich davon aus, dass binäre Leitunterscheidungen nach dem Muster ›höfisch‹ – ›unhöfisch‹ grundlegend sind für die Organisation narrativer Texte, doch hat das Beispiel Brandigan (das im Folgenden noch genauer zu besprechen sein wird) bereits angedeutet, dass es offenbar räumliche Einheiten gibt, die sich einer solchen Dichotomisierung entziehen, die vielmehr in einem nicht-identitätslogischen – ›mythischen‹ – Sinne an beiden Seiten der Unterscheidung zugleich partizipieren: an ›Raum‹ und ›Gegenraum‹ oder – konkreter gesprochen – am ›Höfischen‹ wie am ›Nicht-‹, ›Un-‹ und ›Außerhöfischen‹15. An diesen Punkten hat die Untersuchung anzusetzen, da hier das Potential literarischen Erzählens als Reflexionsmedium der ›ungelösten Probleme‹ einer kulturellen Formation besonders virulent wird. Die Vorgaben des ›klassischen‹ Strukturalismus sind demnach um solche aus den formalen Konzeptionen des Mythischen zu ergänzen.

Der zweite Punkt betrifft das Verhältnis von literarischem Raum und außerliterarischer Wirklichkeit; insofern damit die symbolische Ordnung des jeweiligen kulturellen Kontexts mitgemeint ist, greifen die Punkte eins und zwei ineinander. RAMIN zufolge ›reagieren‹ symbolische Raumordnungen immer auf vorgängige kulturelle Prozesse (etwa auf den Zerfall der Sowjetunion in Osteuropa)16, wie auch der kognitive Raum stets als nachträgliches ›Abbild‹ des realen Raumes gedacht ist.17 Doch wie auch der Diskurs nichts ist, was den Texten logisch vorausginge, sondern sich immer erst in den Texten und als Texte realisiert, so ist auch mit einer steten Wechselwirkung zwischen literarischer und kultureller symbolischer Ordnung zu rechnen.18 Textuelle Weltmodellierungen ahmen die außerliterarische Realität nicht bloß nach, sondern können – ganz im Sinne Oscar Wildes – diese auch antizipieren, indem sie »aus Elementen der bekannten Welt eine Alternative zu dem dem, was als ›wirklich‹ gilt, entwerfen«19.

Für die Frage nach literarischen Raumimaginationen bedeutet das, dass auch hier nicht mit einer vorgefundenen und statischen Raumordnung zu rechnen ist, sondern dass die Texte die Spielräume literarischen Fingierens möglicherweise gerade dazu nutzen, räumlich-kulturelle Konstellationen allererst zu entwerfen oder auch zu verwerfen, im Modus des ›Als-ob‹ topographische und ideelle Grenzen nicht nur zu übertreten, sondern die Grenzen selbst zu verschieben oder gar auszulöschen und durch völlig neue, eigengesetzliche Grenzziehungen zu substituieren. Gerade hier können aber auch die oben beschriebenen mythischen Strukturlogiken zum Tragen kommen, indem beispielsweise zunächst als gegensätzlich eingeführte Raumsemantiken konkreszierend aneinandergerückt werden, was dann mit der Entdifferenzierung der zuvor gesetzten räumlichen Ordnung einhergeht.

Das setzt eine viel dynamischere Vorstellung von narrativem Raum voraus, als es die Theorie sujethaften Erzählens im Sinne LOTMANs vorsieht.20 Nicht die Zuordnung von Figuren zu einzelnen, in spezifischer Weise semantisierten Teilräumen steht zur Disposition, sondern vielmehr das geordnete Verhältnis dieser Teilräume selbst.21 Nicht so sehr auf die Bewegung der Figuren im Raum ist zu achten22, als vielmehr auf die Bewegung des Raumes als solchem. Wenn man daran gleichwohl das polare Schema von Ordnungsstörung und -restitution anlegen möchte, dann wäre die Ordnungsstörung nicht mehr als Transgression einer normativen Grenze zu modellieren, sondern als deren Auflösung, die Restitution der Ordnung nicht mehr als Rückkehr der zentralen Figur in den Ursprungsraum, sondern als Wiedereinsetzen der Grenze. Die auf Dauer gestellte Etablierung einer identitätskonstituierenden Grenzziehung zum ›Anderen‹ bedeutet zugleich die Bannung des mythisch-entdifferenzierenden Potentials, das jedoch in der ambivalenten Struktur des Höfischen selbst schon angelegt ist. Dabei handelt es sich um eine kulturstiftende Leistung, die in den literarischen Imaginationen um 1200 allerdings nicht vorausgesetzt wird, sondern erst erbracht werden muss. Ob und wie das in den einzelnen Texten jeweils geschieht, ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.

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