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1.3 Mythos und mittelalterliche Literatur 1.3.1 Arbeit am Mythos – Arbeit mit dem Mythos*

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Das erklärte Anliegen des FRIEDRICH/QUAST-Bandes war es, wie erwähnt, die Literaturgeschichte des Mittelalters unter dem Aspekt einer ›Arbeit am Mythischen‹ neu zu perspektivieren. Doch auch davor und danach hat man Hans BLUMENBERGs griffige Formel von der ›Arbeit am Mythos‹*, die auch FRIEDRICH und QUAST hier offenkundig anzitieren, immer wieder herangezogen, um die mittelalterliche Rezeption mythischer Erzählstoffe und -formen terminologisch auf den Punkt zu bringen. Kaum problematisiert wurden dabei aber die Implikationen, die sich aus seiner Konzeption für das Programm einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft ergeben, deren Anliegen vornehmlich darin besteht, Literatur als spezifisches Zeichensystem mit eigenen Regeln, eigenen pragmatischen und funktionalen Zusammenhängen im Kontext eines umfassenderen kulturellen Zeichengebrauchs zu beschreiben.1 Zweifel an der Reichweite seiner philosophisch-anthropologischen Überlegungen im Rahmen dieses Programmes ergeben sich schon daraus, dass zwar auch BLUMENBERGs Interesse ein kulturgeschichtliches ist, er dabei aber immer den großen diachronen Bogen von der Vormoderne zur Moderne im Blick hat und kaum an der synchronen Analyse literarischer Textzeugnisse vor dem Hintergrund ihres jeweiligen kulturellen Kontextes interessiert ist.

Das Problem verschärft sich, wenn man bedenkt, dass BLUMENBERG zwar sowohl Mythos als auch Literatur funktional bestimmt, dabei allerdings nicht klar zwischen diesen beiden Redeformen differenziert, insofern er nämlich die ›Arbeit am Mythos‹, d.h. die ästhetische Mythosrezeption, funktional aus der ihr vorgängigen ›Arbeit des Mythos‹ ableitet: Bestand die kulturelle Leistung des Mythos darin, den ›Absolutismus der Wirklichkeit‹ durch die Überführung von »numinose[r] Unbestimmtheit« in »nominale Bestimmtheit«2 zu bannen, so findet in BLUMENBERGs Konzeption die ästhetische Rezeption des Mythos ihren Sinn offenkundig gerade darin, nun ihrerseits den Mythos immer weiter zu depotenzieren, nachdem der Schritt von einem dominant mythischen hin zu einem dominant wissenschaftlich geprägten Weltbild erst einmal vollzogen ist:

»Die Arbeit des Mythos muß man schon im Rücken haben, um der Arbeit am Mythos nachzugehen […]. Gegenbegriff der Arbeit des Mythos könnte sein, was ich den Absolutismus der Wirklichkeit genannt habe; Grenzbegriff der Arbeit am Mythos wäre, diesen zu Ende zu bringen, die äußerste Verformung zu wagen, die die genuine Figur gerade noch oder fast nicht mehr erkennen läßt. Für die Theorie der Rezeption wäre dies die Fiktion eines letzten Mythos, der die Form ausschöpft und erschöpft.«3

Damit reduziert BLUMENBERG den Mythos aber zu einem kulturgeschichtlichen Atavismus, seine Bearbeitung, insbesondere in Form der literarischen oder allgemeiner künstlerischen Mythosrezeption dagegen zu einem beständigen, aber letzlich vergeblichen Sich-Abarbeiten am unliebsamen und doch unüberwindlichen Gegenstand: Die immer neuen und immer nur vorläufigen Versuche, den Mythos ›ans Ende zu bringen‹, vermögen diesen zwar nie völlig zu verabschieden, doch rücken sie ihn zumindest mehr und mehr auf Distanz. Der Frage nach der spezifischen Leistung literarischen Erzählens, nach dem Mehrwert der überkommenen Stoffe in einem kulturellen Kontext, in dem ihr ursprünglicher ›Sitz im Leben‹ längst schon historisch fremd geworden ist, dürfte man mit einer solchen Perspektivierung aber kaum näherkommen. Für das genannte Forschungsprogramm erscheint deshalb ein Perspektivenwechsel, der Blumenbergs Überlegungen ins Positive wendet, dringend angeraten. Weniger ist danach zu fragen, in welchen »ästhetischen Kraftakten des Zuendebringens«4 die Mythosrezeption immer wieder aufs Neue dazu ansetzt, »die äußerste Verformung zu wagen, die die genuine Figur gerade noch oder fast nicht mehr erkennen läßt«, sondern vielmehr danach, welches Sinnbildungspotential es ist, das der Mythos – und offenbar nur der Mythos – auch und gerade dann bereitstellt, wenn er sich vom Anspruch eines verbindlichen Wahrheitsdiskurses schon weitgehend gelöst hat, und wie dieses Potential in den jeweiligen kulturellen Konfigurationen tatsächlich auch aktualisiert wird. In dieser Perspektive erscheint – um im Bildfeld zu bleiben – der Mythos weniger als das Werkstück, das es zu bearbeiten gilt, sondern vielmehr als das Werkzeug, mit dem sich offenbar ganz vorzüglich etwas anderes – bestimmte kulturell relevante Sachverhalte etwa – in spezifischer Weise, im Modus literarischer Rede nämlich, bearbeiten lässt: Arbeit mit dem Mythos also, wenn man so möchte, statt Arbeit am Mythos.5

Für Hans BLUMENBERG sind Mythen »Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter Variationsfähigkeit«6. Das klingt auffällig nach der strukturalen Ethnologie eines Claude LÉVI-STRAUSS, der, statt »nach einer authentischen oder ursprünglichen Version« des Mythos zu suchen, vorschlägt, »jeden Mythos durch die Gesamtheit seiner Fassungen zu definieren«7. In gewisser Weise projiziert BLUMENBERGs ›Arbeit am Mythos die strukturale Methode Claude LÉVI-STRAUSS’ damit auf die diachrone Achse der Mythenrezeption, und Blumenberg macht selbst explizit auf die Nähe zu LÉVI-STRAUSS aufmerksam, um sich sogleich von ihm zu distanzieren:

»Die ideale Gleichzeitigkeit des Ethnologen erscheint […] als bloße Verlegenheit um temporale Parameter. Sein Zeitbegriff ist von der Struktur der Überlagerung gekennzeichnet, und die Zugehörigkeit aller Varianten zu einem Mythos erweist sich von daher gar nicht als Forderung, sondern als rationalisiertes Sichabfinden mit einer nur faktischen Mangellage. Die Unerreichbarkeit temporaler Tiefenschärfe wird, in einer der nicht seltenen professionellen Umwertungen, zum Triumph der Erkenntnisleistung.«8

Das Problem haben beide Ansätze gemeinsam. »Zwar sind Mythen dokumentiert erst seit der Epoche der Schrifterfindung, in der sie offenbar längst vorhanden waren; möglich aber waren sie bereits mit der Entstehung der Sprache; dazwischen liegen die ›Ursprünge‹ im Feld des nicht Wißbaren«9, wie Christoph JAMME festhält. Sämtliche früheren Ausprägungen des Mythos bleiben dem Zugriff des Forschers entzogen, sofern sie nicht in irgendeiner Form, z.B. schriftlich, fixiert wurden: Alles, was vor der schriftgestützen oder zumindest bildlichen Tradierung des Mythos liegt, ist für LÉVI-STRAUSS wie für BLUMENBERG gleichermaßen unwiederbringlich verloren. BLUMENBERG reagiert darauf, indem er die Frage nach vorliterarischen Konfigurationen des Mythos radikal aus seinem Blickfeld ausblendet:

»Auch wenn ich für literarisch faßbare Zusammenhänge zwischen dem Mythos und seiner Rezeption unterscheide, will ich doch nicht der Annahme Raum lassen, es sei ›Mythos‹ die primäre archaische Formation, im Verhältnis zu der alles Spätere ›Rezeption‹ heißen darf. Auch die frühesten uns erreichbaren Mythologeme sind schon Produkte der Arbeit am Mythos.«10

Stellt aber diese Antwort auf die genannte methodische Crux etwas anderes dar als eine der von ihm bei LÉVI-STRAUSS monierten ›professionellen Umdeutungen‹? Läuft ein solcher Zuschnitt nicht Gefahr, wichtige Unterschiede heterogener diskursiver Praktiken von vorne herein einzuebnen?

LÉVI-STRAUSS freilich wurde auch von anderer Seite mit der Frage konfrontiert, warum er sich nicht mit den tradierten Mythen und Mythologemen seines eigenen Kulturkreises beschäftigt und damit zugleich sein Erkenntnisinteresse in die diachrone Dimension verlängert habe. Gegen den Versuch von Edmund LEACH, das Alte Testament mittels der strukturalen Methode zu analysieren,11 wendet LÉVI-STRAUSS mit einigem Recht ein:

»Was mich betrifft, ich würde sehr zögern, etwas Derartiges zu unternehmen. Zunächst, weil das ›Alte Testament‹, das sicherlich mythologische Stoffe benützt, diese für einen anderen Zweck verwendet als den, der ursprünglich ihrer war. Ohne jeden Zweifel wurden sie von den Verfassern durch eine Interpretation entstellt; damit wurden jene Mythen einer intellektuellen Operation unterworfen.«12

Es gebe also durchaus, so das Argument, einen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Mythos in seiner ursprünglichen Form und Funktion und dem, was spätere Bearbeitungen daraus machen. Damit trifft LÉVI-STRAUSS sich mit der Position Christoph JAMMEs, der unter anderen Vorzeichen – JAMME kann bereits auf BLUMENBERG (und dessen Kritik an LÉVI-STRAUSS) reagieren –, aber doch in eine ähnliche Richtung zielend die »Signifikanz der Umdeutung der schriftlich fixierten Mythen gegenüber den ursprünglich oral tradierten«13 betont und dabei gerade die »methodische Beschränkung auf die Wirkung, Rezeption des Mythos« in neuren philosophischen Mythostheorien (insbesondere derjenigen BLUMENBERGs) anmahnt, »weil dessen Anfänge nicht faßbar seien«14: »Die Gefahr bei der Konzentration auf die schriftliche Fixierung des Mythos« bestehe, so JAMME, »in der Herauslösung des Mythos aus dem ihn konstituierenden sozialen und kulturellen Umfeld. Mythen einzelner Gesellschaften können sinnvoll nur kontextuell interpretiert werden.«15 Eine kategoriale Unterscheidung zwischen originären Mythen einerseits und ihrer schriftliterarischen Rezeption andererseits muss dabei – und hierin ist BLUMENBERG grundsätzlich beizupflichten – stets nur hypothetisches Konstrukt bleiben, zumal es im Spannungsfeld zwischen ›Mythos‹ und ›Literatur‹ allenfalls weiche Übergänge statt klar definierter Grenzziehungen gibt und die Ursprünge einer jeden mythischen Tradition selbst gleichsam im Dunkel mythischer Vorzeit liegen. Dennoch scheint es erforderlich, analytisch zunächst auseinanderzuhalten, was sich in historischer Perspektive als untrennbar konfundiert erweist, sofern man sich für die historische Spezifik bestimmter Konfigurationen mythischen Erzählens interessiert und Mythos und Mythosrezeption nicht von vorne herein in einem gleichförmigen Kontinuum aufzulösen bereit ist.

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