Читать книгу Raum in Bewegung - Thomas Poser - Страница 15

1.6 Das Gegenbeispiel: Narrative Ambivalenz im ›Herzog Ernst B‹

Оглавление

Der ›Herzog Ernst B‹ wurde hinsichtlich seiner Erzählstruktur mehrfach mit dem Artusroman in Verbindung gebracht.1 Insbesondere die räumliche Organisation des Textes bietet Ansatzpunkte für einen möglichen Vergleich mit der arthurischen Epik, denn hier wie dort wird dem Bereich des ›Eigenen‹ – hier das rîche unter Kaiser Otto, dort die höfische Welt mit dem Artushof als Zentrum – ein Bereich des ›Anderen‹ als Reflexionsraum gegenübergestellt – im ›Herzog Ernst B‹ der fabulöse Orient, im Artusroman die gegenhöfische Aventiurewelt –, in welchem die im Ausgangsraum entstandenen Konflikte ›kompensatorisch‹ ausgetragen werden müssen.2 Insbesondere mit seinen Tiermenschen und Fabelwesen wirkt der Orient des ›Herzog Ernst B‹ dabei geradezu wie ein Musterbeispiel eines ›mythischen‹ Raumes im hier beschriebenen Sinne, in dem die basalen ordnungskonstituierenden Unterscheidungen der ›gewöhnlichen‹ Welt aufgehoben scheinen. Hier haben die Beobachtungen einzuhaken.3

Als Ernst und seine Gefährten in der verlassenen Stadt Grippîa anlangen, bemerken sie zunächst eines: die außerordentliche Pracht dieses geheimnissvollen Ortes. Er ist allenthalben mit Gold, Silber, Edelsteinen und kostbaren Stoffen ausgestattet, aber auch mit technischen Finessen wie einem ausgeklügelten Bewässerungssystem, das nicht nur das prächtige Bad mit Wasser versorgt, sondern zugleich als eine Art städtische Selbstreinigungsanlage fungiert (vgl. HE 2645–2698). So wirkt die fremde Stadt wie eine überhöhte Version des Eigenen und Vertrauten – höfische Kultur in Vollendung, wenn man so möchte: sist aller bürge ein krône, / die man in der werlde hât gesehen (HE 2790f.), wie der Erzähler kommentiert. Nachdem Ernst und sein Begleiter Wetzel sich in aller Ruhe an den ›höfischen‹ Vorzügen der verlassenen Stadt gütlich getan haben, sich am reichlich gedeckten Tisch satt gegessen (HE 2450f.), gebadet (HE 2746) und in der nahegelegenen Kemenate geruht haben (HE 2754–2757), kommen die Bewohner der Stadt schließlich von ihrem Raubzug aus Indien zurück, nur knapp, bevor Ernst und Wetzel zu ihren Schiffen zurückkehren können. Der Anblick, der sich den beiden aus ihrem behelfsmäßigen Versteck bietet, nimmt sich jedoch überraschend anders aus, als es der hohe zivilisatorische Standard der Stadt im Vorfeld hätte vermuten lassen: Nicht etwa höfische Ritter sind deren Bewohner, sondern groteske Mischwesen mit menschlichen Körpern und Kranichköpfen:

Dô sie ein wîle heten gestân,

die vil ellenthaften man,

und allenthalben sâhen,

dô wurdens in allen gâhen

vor dem burctor gewar

einer seltsænen schar

von mannen und von wîben.

die wâren an ir lîben,

sie wæren junc oder alt,

schœne und wol gestalt

an füezen und an henden

und in allen enden

schœne liute und hêrlich,

wan hals und houbet was gelîch

als den kranichen getân.

[…]

rîche phelle und samît,

sumlîche von timît,

dar nâch als ieclîch wolde,

von sîden und von golde

was gezieret ir gewant.

an ir lîbe nieman vant

zer werlt deheiner slahte kranc,

wan daz in die helse wâren lanc,

ritterlîch übr al den lîp. (HE 2845–2875)

Der Versuch, eine auf der Indienfahrt entführte Prinzessin aus dem Griff der Monstren zu befreien, scheitert katastrophal, noch bevor er überhaupt ernsthaft angegangen werden kann: Als Ernst und Wetzel entdeckt und für Verbündete des Mädchens gehalten werden, strecken die Kranichmenschen die Hilflose a limine mit ihren Schnäbeln nieder (HE 3410–3429). Noch im Sterben erweist sich das Mädchen als vorbildliche Christin, wenn sie um Gottes Beistand für den Helden und seine Heimreise bittet:

›got ruoche dir daz glücke geben

daz du wol wider komest ze lande.‹

dô neic sie dem wîgande.

zehant dô sie daz wort verlie,

diu sêle ir ûz dem munde gie. (HE 3573–3576)

Indem die junge Adlige mit ihrem letzten Atemzug noch den Namen Gottes in den Mund nimmt, gewinnt sie die Züge einer christlichen Märtyrerin. Ihr vorzeitiger Tod bewegt Ernst zu einem Urteil, das die anfänglich noch offen gelassene Frage beantwortet, ob die Bewohner der Stadt heiden sîn od cristen (HE 2273), denn nun stellt er mit aller Entschiedenheit fest: diz sind ungetoufte liute (HE 3752).

Die Frage nach dem Taufstatus der Grippîaner bringt ein neues Paradigma der Fremdwahrnehmung ins Spiel, dass die anfängliche Bewunderung für ihre überlegene Kultur nun durch eine andere, aber ebenso eindeutige Axiologie ersetzt: Die Stadtbewohner rücken immer mehr in die Sphäre des Animalischen und Untermenschlichen und können so erbarmungslos niedergemetzelt werden wie später die Heiden aus Babylon. Bezeichnenderweise werden die Grippîâner, wie die Babylonier auch (vgl. 5581), sogar ausdrücklich mit Schlachtvieh in Verbindung gebracht:

wir slahens als daz vihe nider.

dâ sint sie ungewarnet wider.

wir trenkens mit ir bluotes flôz:

si habent niht wan ir geschôz:

waz schadet daz unsern ringen? (HE 3295–3299)

Indem die Kranichmenschen nun konsequent als Nicht-Christen, ja Nicht-Menschen stilisiert werden, erscheinen sie fortan auch hinsichtlich ihrer materiellen Kultur als inferior: Mit ihren Pfeilen vermögen sie die Schilde und Rüstungen von Ernsts Männern kaum zu durchbrechen (vgl. HE 3660, 3298f.), während ihre dünnen Hälse wie gemacht scheinen für die scharfen Klingen der Ritter:

ir helse smal unde lanc

ir […] swert vil wênic miten.

ir wart von sô vil versniten

daz es grôz wunder was. (HE 3628–3631)

Den Europäern bleibt gleichwohl nur der Rückzug: Die Grippîaner behalten die Oberhand alleidurch ihre schiere zahlenmäßige Überlegenheit und durch die Zuhilfenahme von Reittieren – wiederum ein Hinweis auf ihre Nähe zum Animalischen –, die gerade nicht im Sinne der höfischen Streit- und Turnierpraxis geführt werden: Dank ihrer Wendigkeit können die bogenschießenden Reiter der begrenzten Reichweite der Schwertkämpfer geschickt ausweichen und zugleich selbst aus der Distanz angreifen:

ûf dem wîten gevilde

wâren sie al umbevangen.

sie mohten ir niht erlangen

leider mit den swerten.

die heiden sie dô werten

dâ von sie wâren überladen.

sie mohten in niht geschaden.

sie wolden ir niht enbîten.

ûf den snellen ravîten

kâmens in selden sô nâhen

daz si in diu ros mohten vâhen.

daz muote harte sêre

den herzogen hêres

und was im vaste unwerde

daz sie in ûf der erde

niht strîtes staten wolden (HE 3807–3811)

Den Text durchzieht ein Diskurs, der die die ritterlich-höfische Sachkultur, speziell ihre Rüstungs- und Waffentechnik zum Gegenstand hat. Dank deren prinzipieller Überlegenheit vermag sich eine handvoll Ritter gegen ein ganzes Heer von Heiden zu beweisen: Die Flucht gelingt – wenn auch verlustreich (vgl. HE 3822f.) – trotz der enormen Überzahl und der ›unritterlichen‹ (unwerde, HE 3809) Kriegstaktik ihrer Gegner. Der Gegensatz zwischen der ritterlichen Kriegskultur des Herzogs und seines Gefolges auf der einen Seite und der unhöfischen, ja primitiven Kampftechnik ihrer jeweiligen Gegner auf der anderen wird im Fortgang der Handlung immer wieder thematisch, so auch im Kampf gegen die Riesen von Kanaan. Hier nun erweist sich die ritterliche Kampfweise endgültig als die feinere, elegantere und schließlich auch überlegene: Im Schutz eines Waldes haben die groben Eisenstangen der Riesen keine Chance gegen die leichten Klingenwaffen der Ritter (vgl. HE 5208–5235).4 Verschränkt ist dieser Diskurs mit einem zweiten Diskurs der Fremdwahrnehmung, dessen Leitdifferenz aber beständig wechselt. Bei der Ankunft in der Stadt Grippîa wird zwar die Frage nach der Konfession ihrer Bewohner angesprochen, doch dominiert die Bewunderung für die höfischen Aspekte der fremden Stadt. Als die Kranichmenschen selbst in Erscheinung treten, rückt die religiöse Differenz in den Vordergrund: Die Tiermenschen erscheinen dann bemerkenswerterweise auch kulturell auf einer niedrigeren Stufe als die abendländischen Ritter.

Später dann, im Land der Arimaspen, wird die erzählte Welt wieder konsequent entlang der Unterscheidung ›höfisch‹/›unhöfisch‹ entworfen: Trotz sprachlicher und – im Wortsinn ›augenfälliger‹ – körperlicher Divergenzen – die Bewohner des Landes sind Zyklopen (vgl. HE 4518–4521) – erkennt der Graf von Arimaspi an den gebæren der Ritter, daz sie edele liute wæren (HE 4553f.); der König des Landes vermag sogar aufgrund der Art und Weise, wie Ernst ein eigens herbeigebrachtes kastilisches Pferd5 besteigt und reitet, zu urteilen, dass er der tiurste (HE 4607) der fremden Gefolgschaft sei. Die Religionsfrage kommt dagegen durch die gesamte Episode hindurch nicht mit einem Wort zur Sprache, während doch der anschließende Feldzug gegen das Heer von Babylon wieder explizit als Heidenkampf, als hervart […] ûf die heidenschaft (HE 5524f.), geschildert wird.6 Es wäre insofern verfehlt, im ›Herzog Ernst B‹ ein frühes Beispiel von Toleranz gegenüber nicht-christlichen Völkern und Kulturen sehen zu wollen7: Das bisweilen durchaus positive Orientbild des Textes wird überhaupt nur dadurch möglich, dass die so heikle Frage nach der Religionszugehörigkeit in den entsprechenden Passagen radikal ausgeklammert bleibt.

Aufs Ganze gesehen erscheint damit zwar auch der Orient im ›Herzog Ernst B‹ als ambivalent semantisierter Raum, doch kommt diese Ambivalenz nicht – wie im Falle der Joie de la curt oder des nibelungischen Jagdwaldes – durch die ›mythische Entdifferenzierung‹ einer die Erzählung grundlegend organisierenden Leitdifferenz (etwa ›höfisch‹/›unhöfisch‹ oder ›höfisch‹/›heroisch‹) zustande, sondern vielmehr durch deren Vervielfältigung und beständigen Wechsel. In dem Moment, in dem der axiologische Code ›switcht‹ – etwa von ›höfisch‹/›unhöfisch‹ zu ›christlich‹/›heidnisch‹ –, kommt es tatsächlich zu Struktureffekten, die phänomenologisch mythischen Konkreszenzphänomenen gleichen: Als die Grippîaner als Figuren in den Text eingeführt werden, erscheinen sie als ambivalente Zwischenwesen, die – wie Siegfried im ›Nibelungenlied‹ – an kategorialen Gegensätzen partizipieren. Davor aber und danach sind die Axiologien jeweils völlig eindeutig: Solange sie noch nicht in persona in Erscheinung getreten sind, gelten sie – ähnlich den Arimaspen – als Vertreter einer kulturell gleichrangigen oder sogar höherstehenden (jedenfalls: vergleichbaren) Zivilisation, über deren Religionszugehörigkeit man allerdings nichts weiß; danach aber sind sie – wie die babylonischen Krieger auch – aus Sicht des Textes nicht viel mehr als ›heidnisches Schlachtvieh‹.8

Raum in Bewegung

Подняться наверх