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1.3.2 Ansätze zu einer funktionalen Unterscheidung von Mythos und Literatur

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Zu einer Minimaldefinition des ›Mythos‹ vordringen zu wollen scheint vermessen in Anbetracht des Umstands, dass selbst die Autoren eines einschlägigen Lexikonartikels sich einer eindeutigen Bestimmung verweigern und stattdessen nicht weniger als sieben heterogene Mythos-Begriffe präsentieren,1 ja, dass zuletzt sogar »die Kontingenz von Systematisierbarkeit selbst zum Wesen ›des Mythos‹«2 erklärt worden ist. Dennoch zeichnet sich bei einer Vielzahl aktueller, einschlägiger wie auch weniger bekannter Theorien des Mythos ein gemeinsamer Nenner ab: Gleichviel, ob man, wie Ernst CASSIRER, den Mythos als ›symbolische Form‹ versteht, die dazu diene, »die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden«3; ob man, wie BLUMENBERG, dem Mythos die Funktion zuschreibt, den ›Absolutismus der Wirklichkeit‹ zu bannen, oder ob man, gerade umgekehrt, wie, Max HORKHEIMER und Theodor ADORNO, den Mythos nicht als Mittel der Distanzierung, sondern vielmehr der Aneignung von Welt begreift4; ob man Mythos als »fundierende, legitimierende oder weltmodellierende Erzählung«5 oder eher als »mündliche[n] Kommentar einer Kulthandlung« fasst, welcher von Ereignissen erzählt, die »an bestimmten Kontenpunkten der menschlichen Existenz«6 ansetzen, oder ob man im Mythos das »Anliegen einer denkenen Weltaneignung« erkennt, welche auf eine Form der »Chaosbewältigung« ziele, »durch die das Denken Stand gewinnt und die Wirklichkeit erschließbar, beherrschbar«7 mache: Alle diese Modellierungen sehen im Mythos eine mögliche Antwort auf das anthropologische Grundbedürfnis, ›Ordnung zu schaffen‹ und einer als kontigent und unstrukturiert empfundenen Wirklichkeit Struktur und Gestalt abzugewinnen und auf diese Weise »überhaupt erst in eine eine intelligible Form«8 zu bringen. Mythos, das wäre demnach – wie man mit Jan ASSMANN resümierend sagen könnte – »eine Geschichte, die man sich erzählt, um sich über sich selbst und die Welt zu orientieren. Eine Wahrheit höherer Ordnung, die nicht einfach nur stimmt, sondern darüber hinaus auch noch normative Ansprüche stellt und formative Kraft besitzt«9.

Wenn es darum gehen soll, Mythos und Literatur in funktionaler Hinsicht zu systematisieren, dann scheint der Posten der Literatur in diesem Fall allerdings in die genau entgegengesetzte Richtung zu verweisen. Erst jüngst hat Albrecht KOSCHORKE darauf hingewiesen, dass es zu kurz greifen würde, eine allgemeine Theorie des Erzählens auf »Bestimmungen des Mythos« zurückzuführen, die »sich um einige wenige Schlüsselkategorien [gruppieren]: Bezwingung von Angst, Sinnstiftung, Orientierung«10. So wichtig der Aspekt der Kontingenzbewältigung auch sei, er erschöpfe doch, so KOSCHORKE,

»nicht die Vielzahl der möglichen Fälle. Denn […] das Erzählen [kann] ebensogut in den Dienst des Abbaus von Sinnbezügen gestellt werden, etwa durch die Demontage von hegemonialen Sinnzwängen. Als eine in hohem Maß formlose Tätigkeit kann es entsprechend gerade die Qualität der Formlosigkeit – sei es durch Deformation, sei es durch Auflösung verfestigter Sinnformen – im Prozess der kulturellen Semiosis ausspielen. In einer Vielzahl von Erzählungen wird Kontingenz keineswegs gebannt, sondern geradezu heraufbeschworen.«11

Karl EIBL definiert ›Poetizität‹ als den Konvergenzpunkt, an dem »die unterschiedlichen Grade des Anteils von Nichtwelt-bannender und Nichtwelt-thematisierender Funktion« literarischer Rede übereinkommen, wobei mit ›Nichtwelt‹ »die Welt jenseits der kulturellen Bestimmungsleistungen«12 gemeint ist. »Als Zeichenmaterie, die auf Nichtwelt referiert,« eigneten sich besonders, so EIBL,

»die ungelösten Probleme der Welt. Jedes ungelöste Problem impliziert als Signifikat: Es gibt noch anderes, das wir nicht kennen oder nicht beherrschen. Insofern verweist jedes Problem auf alle anderen, eignet sich als symbolisch generalisierte Codierung von Unlösbarkeit oder Unbestimmtheit. Poesie, soweit sie Simultanthematisierung [von Welt und Nichtwelt] ist […], erhält damit eine zweifache Referenz. Sie bezieht sich auf ungelöste Probleme der jeweiligen Welt, und im semantischen Medium der ungelösten Probleme bezieht sie sich zugleich auf das unreduzierte Ganze.«

Bedingung der Möglichkeit einer solchen doppelten Referenz sei, dass Poesie »sich den ›Wahrheits‹-Ansprüchen anderer Problemlösungsinstanzen entziehen, […] sich der Reduktion der Komplexität von Welt durch andere Instanzen verweigern und eine eigene ›Wahrheit‹ konstituieren« und so »gerade die Thematisierung der Kosten solcher Reduktion von Komplexität zu ihrer eigentlichen Domäne machen«13 könne. Gerade die Suspension von anderweitig geltenden Referenzzwängen ermögliche es also, »ungelöste Probleme als ungelöste überhaupt zu thematisieren«14, was dort etwa, wo »Dichtung mit Mythos und Kult verwoben« ist und die »Unterscheidung von eigentlicher und uneigentlicher Rede«15 insofern noch keine Gültigkeit besitzt, nur mit Einschränkungen der Fall sei.

Anders als beim Mythos, liegt die Leistung poetischen Erzählens also weniger in dessen weltmodellierender Kraft als darin, dass es die jeweils herrschenden Weltmodelle ihrerseits zum Gegenstand der Reflexion werden lässt und dabei, insoweit Literatur unter den Bedingungen fiktionalen Erzählens operiert, auch und gerade deren blinde Flecken aufzeigen kann. Literatur als poetische Rede erlaube in diesem Sinne, wie Jan-Dirk MÜLLER feststellt, »Beobachtung zweiter Ordnung«16, die gleichwohl »alltägliche Erfahrungs- und Wirklichkeitsmodelle nicht einfach« abbilde, sondern »ihre Alternativen durchspielen, sie aporetisch zuspitzen, emphatisch bestätigen«, ihre »konkurrierenden Muster [gegeneinanderführen], kritisieren oder subvertieren [könne] – und was der Möglichkeiten mehr sind«17.

Auch hier gilt es wieder heuristisch zu trennen, was historisch, mindestens für die Periode vor der sog. ›Sattelzeit‹ im 18. Jahrhundert, allenfalls als unüberschaubares Geflecht von verschiedenen, teils konkurrierenden Funktionszusammenhängen und pragmatischen Einbindungen erscheinen muss. Für EIBL ist es Epochensignatur des Sturm und Drang, »daß Poesie nun ausdifferenziert wird als selbständiges Organon der Reflexion ungelöster Probleme«18. Doch wenn man von den vielfältigen Formen der heteronomen Inanspruchnahme abstrahiert (herrschaftliche Repräsentation, weltliche und geistliche Didaxe, religiöse Erbauung usw.), dann lässt sich schon für die Vormoderne zeigen, wie die Möglichkeiten literarischen Erzählens genutzt werden, um Kontingenz nicht etwa abzubauen oder zu überspielen, sondern geradezu auszustellen, und dies nicht allein in den großen Romanentwürfen eines Gottfried von Straßburg oder Wolfram von Eschenbach.

Beate KELLNER etwa arbeitet am Beispiel des ›Heinrich von Kempten‹ Konrads von Würzburg heraus, dass dessen »spezifisch literarische Kodierungsform«19 – im Gegensatz zu den historiographischen Quellen derselben Stofftradition (und entgegen der Selbstaussage des Erzählers im Epilog; vgl. HvK 744–753) – eben nicht auf eine eindeutige Sinnzuweisung zielt, sondern gerade darauf, die Ambivalenz von Gewalthandeln im Spannungsfeld von Herrschaftssicherung und -gefährdung zu inszenieren. Und selbst eine Erzählung, die so offenkundig auf die Affirmation einer bestehenden Ordnung (genauer: des hierarchischen Verhältnisses der Geschlechter) abstellt wie Sibotes ›Frauenzucht‹, unternimmt dies auf dem Umweg der Kontingenzexposition in Bezug auf den herrschenden Diskurs: Jan-Dirk MÜLLER weist nach, dass der Text die »auf Galen zurückgehende Vorstellung« aufnimmt,

»dass die männlichen und die weiblichen Genitalien im Prinzip gleich gebaut sind, die weiblichen nur innerhalb des Körpers, die männlichen außerhalb liegen, wobei ihre Gestalt die genaue Umkehrung derjenigen des anderen Geschlechtes ist. Mit Lage und Funktion der Geschlechtsteile ist eine Bewertung verknüpft: Die männliche Organisation des Körpers ist vollkommener, weil funktionstüchtiger. Die angemessene Ausbildung der Geschlechtsteile ist die des Mannes. Bei der Frau wird diese Ausbildung durch die mindere Qualität des Samens oder sonstige widrige Umstände bei der Zeugung behindert. Die Frau ist insofern ein misslungener Mann.« 20

Allerdings reproduziert der Text diese Theorie nicht unmittelbar, sondern entblößt auch fiktionsintern die Vorstellung einer Analogie männlicher und weiblicher Organe als (in diesem Fall: männliche) Erfindung: Alle Beteiligten, ob fiktionsintern oder -extern (das – vermutlich überwiegend männliche – Publikum), sind sich des Inszenierungscharakters der Operation zur Behebung einer vermeintlichen »männlichen Missbildung am weiblichen Körper«21 (des sog. zornbrâten; Fr 668) bewusst – alle, außer der betroffenen Frau selbst, die sich aus Angst vor weiteren Maßnahmen dazu bereiterklärt, sich ihrem Mann gegenüber auch ohne chirurgischen Eingriff gehorsam zu zeigen. Der Geltungsanspruch des medizinischen Diskurses wird im narrativen Arrangement des Maere suspendiert, um vor diesem Hintergrund die Naivität der Frau umso deutlicher hervortreten zu lassen und so die Vorherrschaft des – aus Sicht des Textes: von ›Natur‹ aus verständigeren – Mannes umso nachdrücklicher zu legitimieren. Auch wenn Kontingenzexposition hier in den Dienst genommen wird, um eine als solche unhinterfragte soziale Ordnung auf einer anderen Ebene zu bestätigen, ist es eben doch das Moment der Kontingenzexposition, das die ›poetische‹ Beschaffenheit des Textes ausmacht und ihn so gegenüber anderen Redeformen auszeichnet, die ähnlich, doch mit anderen Mitteln auf das Festschreiben sozialer Normen zielen. Kontingenzexposition kann in diesem Sinne als Minimalbedingung von ›Poetizität‹ gelten, ohne dass deshalb der einzelne Text in diesem Aspekt auch aufgehen müsste oder gar von ›Poesie‹ im Sinne EIBLs, d.h. als einem voll ausdifferenzierten gesellschaftlichen Funktionssystem, die Rede sein könnte.

Sowohl für EIBL als auch für KELLNER und MÜLLER ist es der Umstand, dass Literatur »mehr als andere Redeordnungen, z.B. die historiographische, von einer direkten Wirklichkeitsreferenz entlastet ist«22, der sie zum Reflexionsmedium kultureller Ordnungsvorstellungen disponiert. Auch hier wiederum ist freilich allenfalls mit graduellen Unterschieden zu rechnen: »Der Spielraum fiktionalen Erzählens kann verschieden weit ausgedehnt sein, die Rückversicherungen in einer als ›historisch‹ verstandenen Vergangenheit verschieden zahlreich, der Rahmen der Wiedererzählung unterschiedlich eng. Fiktionalität ist skalierbar.«23 Was Walter HAUG als ›Entdeckung der Fiktionalität‹ beschreibt, darf nicht als einmaliger epochemachender Moment verstanden werden, sondern als Prozess;24 oft genug wird ein Fiktionalitätsbewusstsein in den Texten dabei – wenn überhaupt – nur implizit greifbar.25 Fiktionalität im Mittelalter – so ließen sich die Ergebnisse der aktuellen Diskussion verkürzt wiedergeben – funktioniert offenkundig anders und unter anderen pragmatischen Voraussetzungen, als es in der Moderne der Fall ist. Gleichwohl sind offenbar schon im Mittelalter die Freiräume literarischen Fingierens ausgeprägt genug, dass Literatur zum Experimentierraum wird, der die geltenden Ordnungsvorstellungen »›spielend‹ zu verändern: zu überhöhen, karikieren, subvertieren, verkehren und dergleichen«26 mehr gestattet. Die höfische Epik ist insofern – mit Jan-Dirk MÜLLER gesprochen – »Reflexionsmedium der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, das Aporien herrschender Kulturmuster aufzeigt und Lösungen antizipiert, die erst viel später diskursiv angegangen, geschweige bewältigt werden«27. In diesem Sinne ließe sich das – freilich unter den Bedingungen des modernen Literatursystems geäußerte – Diktum Oscar Wildes, dass Literatur das Leben nicht nachahme, sondern ihm immer schon vorausgreife und dabei nach ihren eigenen Absichten forme (vgl. KuL, S. 30) – Beate KELLNER spricht vom »utopische[n] Potential«28 von Literatur –, mutatis mutandis auch auf die mittelalterliche Dichtung beziehen. Gleichzeitig ist damit aber ein entscheidender Unterschied gegenüber genuin mythischen Erzählungen benannt, die aufgrund ihrer »lebenspraktischen Eingebundenheit«29, ihrer »Ernsthaftigkeit«30 und »inhaltlichen Verbindlichkeit«31 diese Möglichkeit nicht oder nicht in diesem Maß bieten. Mythische und poetische Rede sind also im Hinblick auf ihre kontextabhängigen Funktionalisierungen und – eng damit verbunden – ihren jeweiligen Geltungsanspruch32 auch für die Situation vormoderner literarischer Praxis prinzipiell auseinanderzuhalten.

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