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2 Der ›Erec‹ Hartmanns von Aue 2.1 …und was eht schœner vreuden bar (Er 9595): Der Verlust der vreude als Problem der ›Erec‹-Interpretationen 2.1.1 Zum Stand der Forschung

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Hartmanns von Aue ›Erec‹ steht nicht nur als (vermutlich) erster deutschsprachiger Artusroman nach französischem Vorbild am Anfang einer überaus produktiven literarischen Tradition; er enthält zudem mit der Joie de la curt eine Episode, die wie kaum eine andere von mythischen Erzähltraditionen keltischen Ursprungs – und zwar sowohl in inhaltlicher wie auch in formaler Hinsicht – geprägt ist1 und deren räumliche Inszenierung schon deshalb als prototypisch für das hier vorgestellte Verständnis von mythischen Räumen gelten darf. An der literaturgeschichtlichen Stellung des Textes dürfte trotz seiner fast unikalen – und späten – Überlieferung2 kaum ein Zweifel bestehen: Die zahlreichen intertextuellen Bezugnahmen bei Hartmanns Zeitgenossen wie auch bei den nachfolgenden Dichtergenerationen sprechen in diesem Belang eine eindeutige Sprache. Seinem literarhistorischen Rang entsprechend stellt sich auch die Forschungsgeschichte zum ›Erec‹ dar, wenngleich die akademische Beschäftigung mit Hartmanns Roman zu Beginn des letzten Jahrhunderts zunächst eher schleppend in Gang gekommen ist. Den doch eher zögerlichen Anfängen der Hartmann-Philologie steht heute eine kaum mehr zu überblickende Forschungslandschaft gegenüber. Gleichwohl hat auch die intensive Rezeption in den einschlägigen Fachkreisen nicht alle Fragen beantworten können, die dieses überaus vielschichtige Erstlingswerk eines Autors aufwirft, der bei seinen Zeitgenossen doch gerade für seinen luziden Darstellungsstil geschätzt wurde.3 Seit Hugo KUHNs vielbeachtetem ›Erec‹-Aufsatz von 19484 hat man in der Schlussaventiure des Romans einerseits einen Reflex auf den individuellen Erfahrungsweg des Helden erkannt wie andererseits eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen der vreude als Kernkonzept höfischer Geselligkeit. Demnach gehe es in der Episode – und letztlich auch in dem Roman als Ganzem – um die Frage der Intergration von Individuum und Gesellschaft, darum also, wie die Ansprüche des Einzelnen mit denen des Hofes zur Deckung gebracht werden können. Dieser aufs äußerste verknappten Essenz der gängigen ›Erec‹-Interpretationen dürfte grosso modo nichts entgegenzusetzen sein. Sie sollte allerdings den Blick nicht dafür verstellen, dass beim gegenwärtigen Stand der Forschung wesentliche Aspekte der Deutung nach wie vor im Dunkeln liegen. Konkret auf die Joie de la curt bezogen, betrifft das zum einen eine Feststellung, die zum ersten Mal in aller Radikalität von Walter HAUG formuliert wurde, dass nämlich die aporetische Struktur des Konfliktes die handlungstechnische Auflösung im Zweikampf als bloße Scheinlösung entlarve5 und dass mithin ein symbolisches oder gar allegorisches Verständnis der Joie de la curt »das subversive Potential der Szene«6 zu verkennen neige – eine Beobachtung, deren weitreichende Implikationen in der gegenwärtigen Diskussion noch keineswegs ausgelotet sind. Zum anderen betrifft es eine Frage, die so grundlegend für die Interpretation der Episode scheint, dass man darüber Gefahr läuft, zu vergessen, dass ihre Beantwortung keineswegs trivial ist: warum nämlich überhaupt der Zustand der vreude am Hofe vom (Fehl-)Verhalten eines einzelnen Paares abhängen sollte.

In Hugo KUHNs Ansatz scheint die Antwort eindeutig: Die Episode sei allegorisch zu verstehen, in ihr spiegle sich »des Paares eigener Weg […]: Zerstörung und Wiedergewinn der Minne und damit der höfischen Freude«7. Der Baumgarten stehe dabei, so KUHN, in seiner »wunderbare[n] Freudennatur« für die höfische Freude selbst: »allen offen und doch nur auf besondere Weise zugänglich«. Durch die falsche, d.h. die »sich in genießendem Besitz« abschließende Minne, die das »allegorische Liebespaar darin« verkörpere, habe nun jedoch auch der Wundergarten die höfische Freude verloren. Erst nachdem Erec, inzwischen durch seine Aventiure-Fahrt geläutert, den Ritter Mabonagrin, der mit seiner vriundinne den Freudegarten okkupiert hatte, in einem allegorischen »Kampf um die rechte Minneform« besiegen konnte, vermag die Freude im Garten und bei der Gesellschaft von Brandigan von Neuem zu erblühen.

So einleuchtend diese Deutung ist, sie steht und fällt doch damit, ob man das Verständnis von ›erzählter Allegorie‹, das KUHN hier entwickelt, teilt oder nicht. KUHNs Allegorie-These wurde nicht erst seit HAUG kritisch diskutiert: So erkennt etwa Christoph CORMEAU in der Joie de la curt allenfalls eine »komprimierte Vergegenwärtigung synchroner und diachroner Bedeutungssetzung«8, die Episode sei also »nicht allegorisch […] in dem Sinn, daß sie auf Orientierungsmuster außerhalb des Romans verwiese, in ihr konzentrieren sich vielmehr die Bezüge auf den ganzen Verlauf«9. Und sogar ihr Urheber selbst hat bekanntlich rückblickend mehr oder weniger deutlich Abstand von der These genommen, die er dreißig Jahre zuvor aufgestellt hatte.10

Wie KUHN, so sieht auch Dieter WELZ eine Verbindung zwischen der Joie de la curt einerseits und der verligen-Szene in Karnant andererseits, insofern nämlich hier wie dort je ein Figurenpaar vorgeführt werde, das sich dem ›Lustprinzip‹ verpflichtet habe und eben dadurch zum Affront gegen die am ›Leistungsprinzip‹ orientierte höfische Gesellschaft werde. WELZ betont aber, dass die Situation jeweils »aus der Sicht der beleidigten Institution geschildert«11 werde und dass es von dieser Perspektive zu abstrahieren gelte, da andernfalls »die Relativität und Funktionalität« der im Roman vertretenen Auffassung verfehlt würde. Wenn der Roman die »dem Glücksstreben des Einzelnen auferlegten Beschränkungen […] als durchaus rational, allgemein anerkannt und universell verbindlich« erscheinen lasse, dann bringe er, so WELZ, »ein Argument der höfischen Gesellschaft vor, das als solches erkannt werden muß. Andernfalls läuft die Interpretation Gefahr, zur Paraphrase zu geraten.« Diesen Sprung auf die Metaebene habe aber KUHN nicht vollzogen, so dass seine Analyse letztlich nur die Position des »in der begrenzten Perspektive ritterlich-höfischen Denkens befangenen Frager[s]« Erec und seines »die Begrenzung sichernden Erzähler[s]« reproduziere. Auf KUHNs – im Grunde die Meinung der höfischen Gesellschaft artikulierende – Äußerung: »Man muß aus dem Freudegarten heraus«12, repliziert WELZ bewusst provokant: »Warum eigentlich?«13 Während der Hof und seine Vertreter – unter ihnen Erec, der Erzähler, aber auch Mabonagrin, der ja seine Niederlage als ›Erlösung‹ feiert (vgl. Er 9583–9586) – es zu begrüßen scheinen, dass mit der Befreiung Mabonagrins von seinem mörderischen Band auch das persönliche Liebesglück des Paares gewaltsam aufgebrochen wird, möchte WELZ den eigentlichen Aggressor in der höfischen Gesellschaft selbst sehen, »die es den Abtrünnigen nicht verzeiht, daß sie ihrer nicht achten«.

WELZ’ Darstellung mag überspitzt sein, doch legt sie den Finger auf einen Punkt, der noch immer einer Klärung harrt: warum nämlich die Gesellschaft auf die Missachtung, die ihr von Seiten des selbstgenügsamen Paares entgegenschlägt, nicht ihrerseits mit Missachtung reagiert, oder anders gesagt: warum sie offenbar in diesem Fall nicht in der Lage ist, das Vergehen der beiden auch entsprechend – etwa mit deren sozialer Exklusion – zu sanktionieren. Es leuchtet unmittelbar ein, warum Mabonagrin, aus Sicht des Textes, auf die Gesellschaft angewiesen ist, um an den rechten Freuden höfischen Daseins teilhaben zu können: wan bî den liuten ist sô guot (Er 9438), wie es Erecs Kontrahent nach dem Kampf selbst formuliert. Doch warum sollte umgekehrt die Gesellschaft auch auf Mabonagrin angewiesen sein, zumal zu erwarten wäre, dass der Ritter mit seinem devianten Verhalten auch seine Hofwürdigkeit eigenhändig verspielt hat?

Auch Walter HAUG nimmt die Minne des Baumgartenpaares in ihrer Eigenwertigkeit ernst und radikalisiert die Position WELZ’ sogar noch dahingehend, dass er in der Beziehung Mabonagrins und seiner Freundin »eine körperliche und geistige Gemeinschaft« sieht, »die durch die absolute Übereinstimmung in allem Wollen und Tun vollkommen«14 sei. Erst in der Begegnung mit Mabonagrin erkenne Erec demnach, »was Liebe sein kann, ja, was sie idealiter sein muß«15. Damit verabschiedet HAUG die Auffassung früherer Interpretationen, die in der Joie de la curt den Kampf der richtigen, höfischen Minne gegen die defizitäre Minne des Baumgartenpaares sehen wollten. Zwar stehe die »absolute Forderung des Eros« in Spannung zur höfischen Ordnung, doch beziehe der Text keineswegs eindeutig Stellung für die höfische Alternative. Seine eigentliche Leistung bestehe vielmehr gerade darin, »die Aporien im Verhältnis zwischen der Utopie [einer höfisch-idealen Gesellschaft] und der absoluten Forderung des Eros wie im Verhältnis zwischen der Utopie und der Widersprüchlichkeit menschlichen Tuns«16 vor Augen zu führen.

So wenig wie WELZ bietet indessen auch HAUG eine Antwort auf die Frage, warum die Selbstisolation des Paares auch den Verlust der vreude für den gesamten Hof bedeutet. HAUG weist an anderer Stelle darauf hin, dass Mabonagrin dadurch, dass er seine Kampfkraft – eine für sich genommen durchaus ritterliche Tugend – »in den Dienst der gesellschaftsfeindlichen Liebe« stelle, »in viel höherem Maße Leid bewirkt, als dies bei Erecs gesellschaftlichem Desinteresse denkbar war«17. Zumindest implizit scheint HAUG also davon auszugehen, dass es das von Mabonagrin verursachte personale Leid ist, das die vreude auf Brandigan verunmöglicht. Mit dieser Sichtweise würde HAUG keineswegs alleine stehen: Auch Barbara THORAN sieht als Gründe dafür, dass es »keine festesfreude« mehr am Hofe des Königs Ivreins gibt, einerseits den Umstand, dass »sich ein junges paar von der gesellschaft zurückgezogen hat«, andererseits aber, dass »dort achtzig witwen in tiefer trauer leben«18. Dabei bemerkt THORAN zu Recht, dass die Trauer der Damen auch dann noch besteht, als die allgemeine Hochstimmung auf Brandigan längst wiederhergestellt ist, ja, dass sie sogar umso mehr Anlass zur Klage haben, »da ihnen nun der anblick des befreiten ritters Mâbonagrîn zugemutet wird, der ihre männer erschlagen hat. Die freude ist an den hof zurückgekehrt, aber sie sind von dieser freude ausgenommen.«19 Hartmanns Text macht das vom Baumgartenritter verursachte Leid nach dem Sieg Erecs nicht einfach vergessen, er ruft es im Motiv der achtzig Witwen – bekanntlich eine Zutat der deutschen Bearbeitung20 – sogar noch einmal nachdrücklich ins Bewusstsein. Doch die allgemeine Hochstimmung bleibt nun davon völlig unberührt, so dass es sich verbietet, beides, die Freudlosigkeit auf Brandigan einerseits und die Befindlichkeit der Witwen andererseits, kausallogisch kurzzuschließen.

Der Grund für die Freudlosigkeit auf Brandigan ist also woanders zu suchen. Es bietet sich an, sich dem Problem über die Begriffs- und Diskursgeschichte von mhd. vreude anzunähern, denn auch wenn es dazu nötig ist, den Blick vorerst von Hartmanns Text wegzulenken, verspricht dies doch, den historischen Bezugshorizont, vor dem dieser rangiert, umso deutlicher hervortreten zu lassen.

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