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1.1 Zur Einführung: Vom heuristischen Wert einer mythostheoretisch gewendeten Narratologie

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Ralf SIMON führt in seiner Untersuchung zur ›strukturalistischen Poetik‹ des Artusromans Brandigan, den Austragungsort der letzten und wohl prominentesten Aventiure in Hartmanns von Aue ›Erec‹, als Beispiel für den Typus der ›verzauberten Burg‹ an, der in seiner Modellierung zusammen mit zwei weiteren Aventiurekreisen – dem Bereich des ritterlichen Zweikampfs und dem Bereich der rohen Gewalt in der Auseinandersetzung mit ›anderweltlichen‹ Kräften wie Riesen und Drachen – als oppositioneller Gegenraum der Sphäre der höfisch-arthurischen Welt entgegenstehe.1 Auch Andreas RAMIN geht in seiner Studie zum Verhältnis von ›Symbolischer Raumorientierung und kultureller Identität‹ von einem grundsätzlich opositionellen Aufbau der erzählten Welt im Artusroman aus, doch bezeichnenderweise dient ihm Brandigan nun als Musterfall, um die Darstellung der Burg nicht als Teil der Aventiurewelt, sondern genau umgekehrt als Element des höfischen Lebensraums zu veranschaulichen.2 Beide Positionen könnten gegensätzlicher nicht sein, und beide können doch auch jeweils gewichtige Argumente für sich geltend machen.

Dieser widersprüchliche Befund dürfte nicht so sehr den beiden genannten Autoren persönlich anzurechnen sein, sondern scheint mir vielmehr symptomatisch für eine allgemeine Tendenz, die die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Text – trotz vorhandener Alternativen3 – bis heute prägt. Schon früh hat die Hartmann-Philologie versucht, die spezifische Poetik des ›Erec‹ – in der Folge sogar der Gattung des Artusromans insgesamt – über zweistellige Beschreibungsmuster zu erschließen4, wie sie später dann in den methodologischen Bemühungen des Strukturalismus theoretisch reflektiert und als erzählanalytisches Handwerkszeug allgemeiner Art festgeschrieben worden sind. So ist etwa für Jurij LOTMAN bekanntermaßen das wichtigste Merkmal der topologischen Ordnung eines jeden sujethaltigen Textes die – im Prinzip unüberschreitbare5 – Grenze, die »den Raum in zwei disjunkte Teilräume«6 unterteilt, welchen auch zwei disjunkte semantische Felder zugeordnet werden können. »Die Art, wie ein Text durch eine solche Grenze aufgeteilt wird«, sei, so LOTMAN, »eines seiner wesentlichen Charakteristika.« Ein ›Ereignis‹ im narratologischen Sinn trete entsprechend immer dann ein, wenn eine Figur gegen jede Wahrscheinlichkeit eben doch »über die Grenze eines semantischen Feldes«7 hinweg versetzt wird. Am deutlichsten hat vermutlich Ralf SIMON in seiner bereits erwähnten Arbeit an dieses strukturalistische Modell angeschlossen, wenn er mit aller Ausschließlichkeit für den Artusroman konstatiert:

»Es gibt nur zwei Räume, den Artushof und das Außerhalb, und der Ritter ist der, der in beiden Räumen agiert. Die Handlung beginnt mit der Überschreitung der Grenzen und steht still, wenn die Überschreitung wieder rückgängig gemacht wurde.«8

Ungeachtet dessen, dass schon der verabsolutierende Gestus dieser Formulierung zu Vorsicht mahnen sollte (»nur zwei Räume« [meine Hervorhebung]; vgl. hierzu Kapitel 2.2.4), hat sich dieses Verständnis der impliziten Poetik des Artusromans inzwischen doch mehrheitlich durchgesetzt. Jedenfalls kann Rainer WARNING, wenn er das Strukturschema des Artusromans als geradezu »exemplarische Einlösung sujethaften Erzählens«9 bezeichnet (um in Abgrenzung dazu das Phänomen ›paradigmatischen‹ Erzählens im ›Tristan‹ Gottfrieds von Strassburg zu profilieren), dies offenbar in dem Bewusstsein tun, nichts anderes als die gängige opinio communis der Forschung zu referieren. Und wenn Andreas MAHLER in seinem Artikel zum Stichwort ›Topologie‹, ähnlich wie schon WARNING, die Erzähltheorie LOTMANs mit dem von Hugo KUHN entwickelten arthurischen ›Doppelwegschema‹ in Verbindung bringt, dann gewinnt dies zuletzt sogar den Status quasi-verbindlichen Handbuchwissens.10

Der LOTMANsche Ansatz hat sich als äußerst flexibles und produktives Analyseinstrument erwiesen, und entsprechend groß ist sein forschungsgeschichtlicher Erfolg. Das Beispiel der Joie de la curt, der Schlussaventiure des ›Erec‹, zeigt allerdings, dass es bisweilen schwierig ist zu entscheiden, welcher Seite der vom Modell her vorgesehenen Unterscheidung eine Entität der erzählten Welt denn nun eigentlich zuzuschlagen sei. Der Austragungsort dieses finalen Abenteuers Erecs jedenfalls ist widersprüchlich semantisiert und changiert so beständig zwischen den Polen der höfischen Sphäre einerseits und ihres gegenhöfischen Widerparts andererseits. Damit erweist sich dieser Weltausschnitt aber – pointiert formuliert – als nicht mit sich selbst identische räumliche Einheit innerhalb der grundlegenden topologischen Struktur des Textes: weder ganz höfisch noch genuin unhöfisch, sondern paradoxerweise beides zugleich.11 Das Modell sujethaften Erzählens in Anlehnung an LOTMAN stößt hier mithin an seine Grenzen.

Nun hat seit einigen Jahren eine analytische Kategorie Hochkonjunktur, die jenseits von identitätslogischen Binarismen argumentiert und die auf diesem Weg dazu beitragen soll, die historisch fremd gewordene Faktur vormoderner (Erzähl-)Texte besser als bisher zu erhellen. Gemeint ist die Kategorie des Mythischen, die, wie Peter FUSS in Anlehnung an Ernst CASSIRER12 formuliert, die »Dichotomie des Entweder-Oder zugunsten der nichtidentitätslogischen Struktur der chimärischen Logik des Sowohl-Als auch, das ein Weder-Noch ist[,] liquidiert«13. Von hier aus fällt es nicht schwer, die raumsemantische Ambivalenz der Joie de la curt damit zu erklären, dass der vorliegende Bereich der erzählten Welt gerade nicht identitätslogisch, sondern eben mythisch verfasst ist: Was ansonsten als kontradiktorischer Gegensatz gelten muss, erscheint hier nun also in mythischer Ungeschiedenheit konfundiert.14 Der Clou aber – und dies blieb bisher, soweit ich sehe, unbeachtet – liegt darin, dass der Text das Spiel mit der mythischen Logik des Sowohl-als-auch sogar so weit treibt, dass er selbst die grundlegendste Differenz, die für den Mythos geradezu konstitutiv ist, am Ende nahezu auslöscht: die Differenz nämlich zwischen einem mythischen und dem ihn umgebenden gewöhnlichen Bereich des »Alltäglichen«15. Denn sei es auch, dass der Mythos, »was immer er berührt, gleichsam in eine unterschiedslose Einheit«16 zusammenballt, so kennt er eben doch eine ganz elementare Unterscheidung, die ihm als solche sozusagen unhintergehbar bleibt – die Unterscheidung nämlich »zweier Bezirke des Seins: eines gewöhnlichen, allgemein-zugänglichen und eines anderen, der, als heiliger Bezirk, aus seiner Umgebung herausgehoben, von ihr abgetrennt, gegen sie umhegt und beschützt erscheint«17. Reflexe auf diese mythische Vorstellung von räumlicher Ordnung finden sich auch in der Joie-de-la-curt-Episode, namentlich bei der Beschreibung der Grenze, die den Baumgarten von Brandigan umgibt. Doch während diese Grenze zunächst in immer neuen Anläufen überdeutlich markiert wird, relativiert sich die scheinbare Exklusivität dieser Raumeinheit im weiteren Verlauf der Erzählung mehr und mehr, so dass die durch die Grenze angezeigte Unterscheidung am Ende intrikaterweise gleichermaßen bestätigt wie radikal in Frage gestellt wird.18

Für Armin SCHULZ, der meinem Verständnis der räumlichen Konfiguration des ›Erec‹-Schlusses wohl am nächsten kommt,19 bleiben die beschriebenen Ambivalenzen auf den klar umhegten Bereich des mythischen Raumes beschränkt. SCHULZ spricht deshalb (in Anlehnung an den Titel des Bandes, in dessen Rahmen sein Beitrag erschienen ist) auch von einem ›Unort‹ – und betont damit überdeutlich die Abgesondertheit dieses Bereiches gegenüber dem gewöhnlichen Raumkontinuum der erzählten Welt. Demgegenüber bleibt weitgehend unbeleuchtet, dass nicht nur innerhalb dieses partikularen Raumsegmentes Entdifferenzierungsphänomene zu beobachten sind, sondern dass vielmehr die Differenz von gewöhnlichem Raum und (quasi-)mythischem Sonderraum ihrerseits derartigen Struktureffekten unterliegt – was von Ernst CASSIRERs Phänomenologie des mythischen Denkens, auf die auch SCHULZ sich explizit beruft,20 so gerade nicht vorgesehen ist.

Hartmanns Roman geht also in der Anwendung der nicht-identitätslogischen Struktur des Sowohl-als-auch noch über mythische Erzählungen im Sinne CASSIRERs hinaus, oder anders gesagt: Der Text arbeitet mit dem Mythos gegen den Mythos. Er funktioniert offenkundig anders als dieser und sagt etwas genuin anderes aus, doch tut er dies gleichwohl – und hierauf kommt es an – auf Grundlage der spezifischen Strukturmerkmale, die schon im mythischen Substrat seines Stoffes angelegt sind.

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