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1.5 Räumliche Ordnung und mythische Logik in der Heldenepik: Das Beispiel ›Nibelungenlied‹
ОглавлениеSiegfried, der Held des ›Nibelungenliedes‹, ist eine mehrschichtige Figur, die in einem mythischen Sinn an polaren Gegensätzen partizipiert. Motivgeschichtlich handelt es sich um den Drachentöter1, der sich – der kontiguitären Logik des Mythos gemäß – durch das Bad im Blut des Ungeheuers (bzw. durch das Trinken des Blutes in der nordischen Tradition) dessen Kräfte aneignet. Das ›Nibelungenlied‹ reduziert diesen sagengeschichtlichen Hintergrund bekanntlich auf das Nötigste: Qua retrospektivem Figurenbericht aus dem Munde Hagens erfährt der Rezipient in nur einer einzigen Strophe von den Umständen:
Noch weiz ich an im mêre, daz mir ist bekannt:
Einen lintrachen, den sluoc des heldes hant.
Er badet sich in dem bluote. Sîn hût wart hurnîn.
Des snîdet in kein wâfen. Daz ist dicke worden schîn. (Nl 98)
Was allerdings im Text ständig präsent bleibt, ist die strukturelle Ambivalenz, die den mythischen Heros kennzeichnet, wobei die beiden Sphären, zwischen denen der Held changiert, vor dem Hintergrund der um 1200 relevanten kulturellen Semantiken umbesetzt werden: Nicht so sehr das Menschliche und das Ungeheuerlich-Animalische markieren die beiden Pole, sondern das Höfische und das Heroische. Im ›Nibelungenlied‹ werden diesen beiden Bereichen unterschiedliche räumliche Segmente der erzählten Welt zugeordnet: Auf der einen Seite steht die bekannte höfisch-feudale Welt, die durch die beiden Höfe Xanten oder Worms repräsentiert wird, auf der anderen Seite – und räumlich durch das Meer deutlich davon getrennt – die Sagenwelt mit dem Nibelungenland und dem Herrschaftsgebiet Brünhilds auf Isenstein.2 Siegfried hat an beiden Bereichen teil, und er kann sich deshalb mehr oder weniger frei zwischen den Sphären bewegen.
Die Krise im ›Nibelungenlied‹ wurde als Einbruch des Heroischen in die höfische Welt beschrieben, als »Kataklysmus«, der mit dem »Zusammenbruch einer ganzen kulturellen Ordnung«3 einhergehe. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass dieser Einbruch sich gerade nicht gewaltsam vollzieht, auch wenn diese Möglichkeit bei Siegfrieds Ankunft vor Worms als ›abgewiesene Alternative‹ zumindest präsentgehalten wird.4 Bezeichnenderweise sind es aber auch nicht Siegfrieds Qualitäten als höfischer Minnediener, die ihm in Worms die Türen öffnen, denn nichts anderes als seine heroische Stärke ist es, die ihn für den Wormser Hof attraktiv macht: Er wird gebraucht, um die Bedrohung durch die Sachsen und Dänen abzuwenden (4. Âventiure), aber auch, um König Gunther bei der gefährlichen Werbung um Brünhild beizustehen – entsprechend wird Siegfrieds Vermählung mit Kriemhild eidlich an die Bedingung geknüpft, dass zuvor diu schœne Brünhilt her in ditze lant komme (vgl. Nl 324–333, hier 332,2). Doch nicht nur in der Auseinandersetzung mit feindlichen Mächten bzw. beim Werbungsbetrug auf Isenstein, auch innerhalb der Grenzen der höfischen Welt – im Rahmen des ritterlichen Agons – erweist sich Siegfried als überlegen:
Sich vlizzen kurzwîle die kunege und ouch ir man,
sô was er ie der beste. man dâ began,
des enkund im gevolgen niemen, sô michel was sîn kraft,
sô si den stein wurfen oder schuzzen den schaft. (Nl 128)
Siegfried ist der Beste nicht nur nach Maßgabe der heroischen Welt außerhalb, sondern auch nach Maßgabe der höfischen Welt, und nur deshalb kommt er als Werber um Kriemhild überhaupt in Frage. Schon dadurch relativiert sich die strikte Trennung beider Sphären.
Die Auflösung der Grenze zwischen den Geltungsbereichen von Höfischem und Heroischem wird auch durch den doppelten Werbungsbetrug an Brünhild vorangetrieben: Paradoxerweise bestätigt auch derjenige die objektive Geltung einer Ordnung, der ihr verdeckt zuwiderhandelt.5 Im Werbungsbetrug lässt sich Gunther auf das heroische Modell der Herrschaftssicherung ein, welches Herrschaft an die körperliche Überlegenheit des Herrschenden bindet, und sei es auch nur zum Schein: Die Ordnung der heroischen Welt wird dadurch nichts desto weniger in ihrer objektiven Geltung bestätigt. Bleibt dies zunächst räumlich auf den Machtbereich Brünhilds, also auf die außerhöfische Gegenwelt, beschränkt (7. Aventiure), so wiederholt sich diese Bestätigung im zweiten Betrug in der (zweiten) Brautnacht, diesmal also im Schlafgemach des burgundischen Herrschers und damit im Zentrum der höfischen Welt (Nl 658–680). Die Grenzziehung zur heroischen Gegenwelt wird damit abermals fragwürdig.
Otfrid EHRISMANN betont, dass »[n]icht nur im Nibelungenlied«, sondern »auch in der historischen Wirklichkeit […] das Höfische und das Barbarische [i. e. das Heroische] Erscheinungsformen einer Kultur«6 seien:
»Der die spätantike Zivilisation rezipierende germanische Adel Westeuropas (der auch zu den Trägern des Nibelungenmythos gehört) hatte gegenüber dem mediterranen Lebensmodell eine eigene Kultur entwickelt, die das Barbarische nie ganz aufgab. Hinzu kommt, dass dieses in keiner Kultur fehlt und durch Zivilisationsideologien (wie z.B. die ritterlich-höfische) allenfalls verdrängt werden kann […]. Was uns heute als idiosynkratisch und unvereinbar erscheinen mag, war es für die Zeitgenossen nicht.«
EHRISMANN schließt daraus, dass »die unterschiedlichen Verhaltensformen nicht (zwingend) als Zeichen kontrastierender, gar ungleichzeitiger Kulturen gelesen werden können«, dass mithin das Epos »nicht aus der Spannung oder Schichtung zweier Kulturen heraus« zu verstehen sei. Wenn auch der Text in diesem Sinne »nicht zwei Kulturen gegeneinander« ausspielt, so sind es doch gegenläufige Tendenzen innerhalb ein- und derselben Kultur, aus denen sich der zentrale Konflikt entspinnt. Auf der Textoberfläche werden diese inkongruenten Aspekte zunächst unterschiedlichen Teilräumen zugeordnet. Mit der Ankunft Siegfrieds am Burgunderhof zeigt sich aber, dass das Heroische nicht nur im außerhöfischen Gegenraum, sondern auch in der höfischen Welt selbst statthat, und so schlägt der zuvor eingeführte Gegensatz von Höfischem und Heroischem allmählich in Identität um.7 Das heroische Gewaltpotential, dass sich insbesondere im zweiten Teil des Epos entfaltet, ist mithin nicht eigentlich etwas, das »›von außen kommt‹«8 und von Siegfried allererst in die »geordnete höfische Welt«9 hineingetragen würde. Was die Präsenz des mythischen Heros am Hofe vielmehr bewirkt, ist die mythomorphe Struktur des Höfischen selbst aufzudecken: Das Höfische, dass sich im ›Nibelungenlied‹ zunächst vor allem in Abgrenzung zum Heroischen definierte, erscheint nun in paradoxer Weise als nicht mit sich selbst identisch. Indem der Unterschied zwischen Höfischem und Heroischem solchermaßen nivelliert wird, beginnt die höfische Ordnung von innen heraus sich zu zersetzen.
Um diesen Prozess zu stoppen, wird im Mordkomplott gegen Siegfried versucht, sich des nur scheinbar fremden, ›mythischen‹ Elements gewaltsam zu entledigen. Bezeichnenderweise geschieht dies in einem Raumsegment, das deutlich macht, dass die Krise des Höfischen zugleich als Krise der räumlichen Ordnung vorgestellt wird. Ähnlich wie der Baumgarten von Brandigan ist der nibelungische Jagdwald durch eine deutliche Grenze von seiner Umgebung abgesetzt: Der Wald liegt, vom Wormser Hof aus gesehen, jenseits des Rheines (Nl 915,3, 924,1). Im ›Erec‹ wird zwar angedeutet, dass die Grenze nur in eine Richtung passierbar sei – niemand ist bisher aus dem Garten zurückgekommen –, doch erweist sich die erneute Passage nach Erecs Sieg über Mabonagrin als völlig unproblematisch, genauer: Die Grenze scheint zu verschwinden.10 Für Siegfried wird die Überquerung des Rheines aber tatsächlich zu einem Weg ohne Wiederkehr, wodurch die Ermordung des Helden mit dem Burgundenuntergang im zweiten Teil des Epos korreliert wird, dem ebenfalls eine aufwendig inszenierte Flussüberquerung – in diesem Fall der Donau – vorausgeht.11
Die symbolische und topographische Grenze des Flusses dient vor allem als handlungslogische Markierung. Raumsemantisch bleibt der Wald nach wie vor auf die makrostrukturelle Ordnung der der erzählten Welt bezogen, wenn auch in paradoxer Weise: Er ist Wildnis, doch schon gezähmte Wildnis, die durch die Einrichtung von herbergen (Nl 944,3 passim) Hochständen (Nl 926,2), Feuerstellen (Nl 940,2) und sogar einer voll ausgestatteten Küche (Nl 940,4, 956) kulturell überformt und der höfischen Welt angenähert ist. Er ist Austragungsort einer höfischen Jagdpraxis, aber auch Ort der heroischen Bewährung, denn nur der Heros ist dazu in der Lage, die wilden Tiere, die den Wald besiedeln – und die weit über das gewöhnliche Inventar eines höfisch-adligen Jagdreviers hinausgehen – zu überwältigen: Der Erzähler erwähnt neben Wildschweinen, Wisenten und Auerochsen auch einen ungefüegen leuwen (Nl 932,4) und einen grimmen schelch (Nl 934,2) – ein rätselhaftes Tier, das Christoph FASBENDER mit dem »um 1200 längst ausgestorbenen ›Bockshirsch‹ (und damit [als] Alteritätssignal)«12 identifiziert. Damit schließt die Darstellung des Waldes einerseits motivisch an mythisch-heroische Traditionen an, wie sie andererseits in ihrer ambivalenten Semantisierung auch strukturell von solchen Erzähllogiken geprägt ist, die auch für den Mythos kennzeichnend sind.
In Siegfrieds Kampf mit einem ausgewachsenen Bären schließlich wird noch einmal inszeniert, was auf der Textoberfläche als Einbruch des Heroischen in die Höfische Welt erscheint: durch sînen hôhen muot (Nl 947,3) – ›aufgrund seiner höfischen Hochstimmung‹ oder doch eher: ›in heroischem Übermut‹ – treibt Siegfried das unbändige Tier in das Lager, wo dieses die Knechte aufschreckt und die Küche verwüstet (Nl 956). Erst ein gezielter Schwerthieb Siegfrieds setzt der Störung der höfischen Ordnung ein Ende (Nl 959,3). Damit verweist die Bärenepisode in feiner Ironie auf Siegfrieds eigenes Schicksal: Wie Siegfried den Bären niederstreckt, den er zuvor eigenhändig entfesselt hat, so wird er wenig später selbst von den Burgunden ermordet: Der Jäger wird zum Jagdvieh.
Mit dem Mord an Siegfried eröffnet sich eine weitere Parallele zu Brandigan und dem dortigen Baumgarten: die Engführung von Lustorttopik und roher Gewalt.13 Ausgestattet mit schattenspendenden Bäumen (Nl 969,1), einer kühlen, klaren Quelle (Nl 976,1) und floraler Pracht (Nl 985,1), trägt der Jagdwald die klassischen Merkmale des locus amoenus, doch werden diese gewaltsam konterkariert: Das Grün der Wiese ist mit dem Blut des Erschlagenen getränkt: Di bluomen allenthalben von bluote wurden naz (Nl 995,1).
Da das entdifferenzierende Potential in der höfischen Ordnung selbst bereits angelegt ist, die das Heroische und Exorbitante in paradoxer Weise zugleich fürchtet und feiert, lässt sich die Ordnungsstörung durch den Mord allerdings nicht beseitigen. Entsprechend setzt sich auch die »mythische Entdifferenzierung«14 der räumlichen Ordnung im zweiten Teil des Epos ungehindert fort. Während auf der motivischen Ebene Elemente der mythischen Tradition noch weiter zurückgedrängt werden – magische Requisiten wie Siegfrieds Tarnmantel spielen kaum mehr eine Rolle, der Hort der Nibelungen wird schließlich im Rhein versenkt (vgl. Nl 1134,3; von beidem, Hort und Tarnmantel, erfährt man wiederum zuerst in Hagens Binnenerzählung, vgl. Nl 86,3 und 95,3) –, greifen mythische Strukturmuster mehr und mehr durch, was mit Jan-Dirk MÜLLER als ›Wuchern der nibelungischen Welt‹15 beschrieben werden kann: »Der abgekapselte Raum der Sage, abgekapselt sogar durch die Strategie des Erzählers von ihm durch den Mund einer seiner Figuren berichten zu lassen, hat sich [zuletzt] über die bekannte Welt der Königreiche und Gefolgschaftsverbände gelegt und sie vernichtet.«16
Im ›Nibelungenlied‹ wie im ›Erec‹ wird jeweils das, was durch seine Unbändigkeit die höfische Ordnung mit ihrer Forderung nach mâze grundlegend in Frage stellt – dort die Bedingungslosigkeit der Minne17, hier die Exorbitanz des Heros – in ein räumliches Außerhalb ausgelagert. Die – »nicht individualpsychologisch, sondern kultursoziologisch verstandene – Rückkehr des Verdrängten«18 in Gestalt des Helden am Wormser Hof aber macht deutlich, dass dieses ›Andere‹ des Höfischen tatsächlich in der höfischen Welt selbst seinen Ort hat. Die Rezentrierung des (vermeintlich) Ausgeschlossenen bewirkt die Liquidierung der symbolischen Ordnung, die auf der Grundlage mythischer Strukturlogiken entfaltet wird, welche schon dem stofflichen Substrat des Textes eingeschrieben sind. Während aber die widerspruchstolerante Logik des Mythos ordnungssetzende und ordnungszersetzende, differenzierende und entdifferenzierende Aspekte in sich vereinen kann, zeichnet sich in der literarischen Mythosrezeption um 1200 ein Spannungsverhältnis ab, das die gegensätzlichen Logiken offenbar nicht mehr unvermittelt nebeneinander bestehen lassen kann. Die Gattungsvorgaben des ›Nibelungenliedes‹ erlauben es, die Implikationen, die sich daraus ergeben, bis zum Ende hin durchzuspielen. Es wird zu zeigen sein, dass der Artusroman sich an strukturell ähnlichen Konstellationen abarbeitet, doch dabei ein spezifisches, ›dynamisches‹ Erzählmodell entwickelt, das weder die Liquidation der symbolischen Ordnung bis in die Katastrophe hinein verfolgt noch die Ambivalenzen des Höfischen je völlig aufzulösen vermag, sondern das vielmehr aus dessen prinzipieller Ambivalenz immer neue Abenteuer zu generieren erlaubt.