Читать книгу Der lachende Vogel - Thomas Reinhold Reppich - Страница 10
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Am nächsten Morgen ging Prior Johannes auf dem Weg zum Morgengebet der seltsame Traum noch nach. Was hatte er zu bedeuten. Der alte Mönch war offensichtlich Buddhist. Bisher hatte er keinen direkten Kontakt zu einem buddhistischen Mönch gehabt. Die eine oder andere Reportage hatte er im Fernsehen verfolgt. Am Rande seines Theologiestudiums hatte er sich im Bereich Weltreligionen eher oberflächlich mit dem Buddhismus beschäftigt. Dies war aber schon alles. Hätte man ihn nach den Wesen des Buddhismus gefragt, hätte er wenig Konkretes antworten können.
Als er die Kapelle betrat, waren bis auf Bruder Jacobo schon alle anwesend. Bruder Stephan saß wie gewohnt an der Orgel und hatte zur Einstimmung in den neuen Tag, wie er zu sagen pflegte, schon mit seinem Spiel begonnen. Meist griff er zu Stücken moderner Meister. Heute spielte er Jean Langlais, einen französischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Seine Musik hatte manchmal etwas Verstörendes. Musik wie aus einer anderen Welt. Am frühen Morgen gespielt bewirkte es auf jeden Fall, dass noch müde Brüder mit einem Mal hellwach waren.
Bruder Augustin sah missbilligend zu Bruder Stephan. Er hatte nicht übrig für die modernen Komponisten. Am liebsten waren ihm immer die Orgelwerke von Bach. Zu ihnen griffe er, wenn er selbst an der Orgel saß.
Bruder Stephan spielte unbeirrt weiter.
„Komm Heil’ger Geist, der Leben schafft, erfülle uns mit deiner Kraft. Dein Schöpferwort rief uns ins Sein: Nun hauch uns Gottes Odem ein“, begann das Morgengebet.
Prior Johannes war es immer noch nicht gelungen, sich ganz vom Traum zu lösen. „Herr, schenke mir die Stille und Ruhe deines Geistes“, entfuhr im spontan ein Stoßgebet.
Als der Prior die Kapelle nach dem Morgengebet wieder verließ, waren die Gedanken an den Traum der Nacht wie auf Knopfdruck wieder da.
Soviel hatte er bisher von den buddhistischen Weisheiten verstanden, dass das Leiden an der Wirklichkeit, an den Ereignissen eines Tages in sich selbst zu suchen sei. Unabänderliche Katastrophen des Lebens, dies wusste er auch, konnten nicht ungeschehen gemacht werden. Warum also an ihnen leiden? War dies nicht etwas einfach gedacht?
Gelassenheit schien so etwas wie der Schlüssel zum Glück zu sein. Den Dingen also ihr Sein lassen. Mit den Ereignissen des Lebens nicht hadern, sondern Frieden finden. Die Lösung eines Problems bestand also eher darin, sich vom dem, was Probleme bereitet, zu lösen. Probleme waren nicht dazu da, um bewältigt zu werden.
Ein anderer Standort musste eingenommen werden. Ein Standpunkt, der es erlaubte auch mit den Widrigkeiten gelassen umzugehen. So zu denken viel im schwer. Er müsste mit all dem brechen, was ihm von Kindheit an, vor allem sein Vater vermittelt hatte: „Junge, stellt dich den Problemen des Lebens. Lauf nicht vor ihnen weg. Wenn du sie löst, wirst du daran reifen.“
Wie oft hatte der Prior jemanden im Gespräch geraten, sich den Problemen zu stellen. Dies zu tun, schien ihm naheliegend. Bislang hatte er es nie in Frage gestellt.
Auf dem Weg zum Speisesaal nahm er einen kleinen Umweg.
Es sah über der Kordillere die Sonne aufgehen. Er dachte nochmals an die letzte Antwort des alten Mönchs, dass wilde Tiere doch eher im eigenen Kopf zu suchen seien.
Wenn das Leiden, nicht das Leiden, das durch ein schmerzhaftes Ereignis vorgerufen wird, sondern das Leiden an den Alltäglichkeiten, die uns das Leben schwer machen, gemeint ist, dann könnte der alte Mönch vielleicht doch Recht haben.
Über das faktisch oder tatsächlich Unabänderliche des Alltags ins Unglück zu verfallen machte wirklich keinen Sinn. „Es ist genug, dass ein jeder Tag seine eigene Plage hat“, kam ihm in den Sinn. Mit dem Schlimmsten zu rechnen, schien dem Lebensglück eher im Wege zu stehen.
Wie wäre der Traum weitergegangen, wenn er sich gelassen neben den alten Mönch gesetzt hätte? Die Frage ließ sich nicht beantworten. Er war ja in Panik aus dem Alp des Traumes aufgewacht.
In Gedanken versuchte er nachzuträumen, was der eigene Verstand ihm in der Nacht versagt hatte.
Er merkte gar nicht, dass er schon längst hinter seinem Stuhl im Speisesaal stand. Bruder Georg stupste in leicht kaum merkbar von der Seite an. Für einen kurzen Augenblick schreckte Prior Johannes auf, fasste sich und sprach das Tischgebet.