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Den Rest des Vormittags verbrachte der Prior mit seinem Studium über Martin Luthers „Freiheit eines Christenmenschen“. In Kürze hatte er in der theologischen Fakultät der Stadt einen Vortrag über diese Schrift zu halten. So, wie die Kirche im Laufe der Jahrhunderte Gestalt angenommen hatte und bis heute immer noch für Schlagzeilen sorgte, konnte er so manches von dem, was Luther damals als Kritik an Kirche und Papsttum Formulierte durchaus teilen. Jedem theologischen Grundgedanken Luthers konnte er nicht folgen.

Prior Johannes stand vom Schreibtisch auf und ging ans Fenster. Von seinem Fenster hatte er einen guten Blick über weite Teile des Klosters. In der Ferne lag die große Stadt unter einer Dunstglocke aus Abgasen. Im Garten des Klosters erkannte er Jacobo und Pablo bei der Arbeit.

Es waren Luther Gedanken über Priester, Geistliche und heilige Stätten im vierten Abschnitt seiner Schrift, die er unmittelbar auf sich bezog. Dort hieß es:

„Ebenso hilft es der Seele nichts, ob der Leib heilige Kleider anlegt, wie die Priester und Geistlichen tun, auch nicht, ob er in den Kirchen und heiligen Stätten sei, auch nicht, ob er mit heiligen Dingen umgehe, auch nicht, ob er leiblich bete, faste, wallfahre und alle guten Werke tue, die durch und in dem Leibe ewiglich geschehen könnten.“

Prior Johannes empfand Luthers Darlegung im vierten Abschnitt als Verengung und für sich als absolut abwegig. Sein Eintritt in eine Bruderschaft hatte nie im Sinn gehabt, in irgendeiner Weise besser vor Gott dazustehen.

Vor über 50 Jahren war er zunächst in Süddeutschland dem Ordnen beigetreten. Damals war es vor allem der Wunsch, durch das Klosterleben spirituell zu reifen. Die Frage nach Gott, die Antwort auf die letzten Fragen, die einen Menschen beschäftigen, glaubte er damals allein in der Abgeschiedenheit des Klosters beantworten zu können. Lange nach dem ewigen Gelübde, als er schon einige Jahre an seinem jetzigen Bestimmungsort wirkte, wurde ihm deutlich, dass es letztlich an anderen Orten, in den Straßen der großen Stadt etwa, möglich sei, Gott nahezukommen. Er glaubte nicht mehr, dass die Abgeschiedenheit, der Rückzug aus dem Treiben der Welt, förderlich für den Glauben sein müsste. Ganz im Gegenteil, mittlerweile war er davon überzeugt, dass sich der Glauben erst im Rinnstein der Straßen, auf den Müllhalden der Zivilisation, wo die Menschen nach Verwertbarem wühlten, bewahrheiten musste.

Zudem, und dies war eine tiefe Einsicht, hatte er in so vielen Klosterjahren erfahren, wie wichtig und bedeutsam äußere Formen und Rituale für die Gemeinschaft der Brüder in ihrem Tagesverlauf, aber auch für Menschen in ihren Tagen der Einkehr waren. Alles Äußere mit Bausch und Bogen zu verdammen, dies wurde dem glaubenden, oder nach diesem suchenden Menschen nicht gerecht.

Wie viele protestantische Geistliche hatten gerade den Rückzug in eine Innerlichkeit als Defizit in ihrer Spiritualität beschrieben. Er war sich sicher, dass seine Zuhörer dieser Argumentation folgen würden. Das Klosterleben und das Leben an einem anderen Ort waren nicht gegeneinander auszuspielen, jede äußerliche Form des Glaubens gegen eine innere Glaubenstiefe ebenso wenig.

Prior Johannes kehrte an den Schreibtisch zurück und begann seine Gedanken niederzuschreiben. Ein Laut, der einem Lachen glich, schreckte in auf. Er kam von draußen. Prior Johannes trat erneut an das Fenster, sah aber niemanden.

Erst bei genauerem Hinsehen erkannte er ihn wieder. Der Vogel, dem ihm am Morgen den Weg versperrt hatte, saß vor dem Fenster auf der Wiese und schaute ihn an.

„Was willst du?“, entfuhr es ihm in wütendem Ton.

„Mach, dass du fortkommst! Du störst mich beim Arbeiten.“

Ohne dem Vogel weiter Beachtung zu schenken, drehte sich Prior Johannes um und wandte dem Vogel den Rücken zu. Es war noch fast eine Stunde bis zum Mittagsgebet. Die würde ausreichen, um die niedergelegte Argumentation nochmals zu überarbeiten.

Der lachende Vogel

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