Читать книгу Der lachende Vogel - Thomas Reinhold Reppich - Страница 14
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Als Prior Johannes sein Zimmer zum Morgengebet verließ, hoffte er insgeheim, der lachende Vogel würde sich zeigen. Er war nirgends zu sehen. Später, dachte er.
„Alles, was Gott will, das tut er im Himmel und auf Erden, im Meer und in allen Tiefen; der die Wolken lässt aufsteigen vom Ende der Erde, der die Blitze samt dem Regen macht, der den Wind herausführt aus seinen Kammern.“
Bruder Georg sang aus dem 135. Psalm und die Brüder antworteten: „Groß ist der Herr, unser Gott ist größer als alle Götter.“
Sollte Gott dann nicht auch möglich sein, einen Vogel sprechen zu lassen, fragte sich Prior Johannes. Er war jetzt schon gespannt, wann sich der lachende Vogel wieder zeigen würde.
In der Früh war zum Wochenende eine Gruppe aus einer Gemeinde des Umlandes angereist. Sie nahm bereits am Morgengebet teil. Sie wollten bis zum Sonntagabend Einkehr im Kloster halten und gemeinsam über das Thema „Frieden und Versöhnung“ arbeiten. Für den Nachmittag war ein Gespräch mit Prior Johannes geplant.
Die Schriftlesung des Morgens aus dem Philipperbrief so zeigte sich, war schon ein Ansatz zum Nachdenken: „Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel, damit ihr ohne Tadel und lauter seid, Gottes Kinder, ohne Makel mitten unter einem verdorbenen und verkehrten Geschlecht, unter dem ihr scheint als Lichter in der Welt.“
Über den besonderen Dienst in einer vom Bürgerkrieg in ihren Grundpfeilern zerstörten Gesellschaft wollte er am Nachmittag mit der Gruppe junger Menschen ins Gespräch kommen.
Für den Vormittag hatte sich noch ein Gast zum Gespräch angesagt.
Als dieser, einer junger Mann Ende zwanzig das Besprechungszimmer betrat, war seine Miene seltsam verdunkelt.
Auf gewohnt nicht so recht zu seinem Gesichtsausdruck passende Weise begrüßte er den Prior überschwänglich.
„Wie geht es ihnen?“, fragte der Prior.
„Sehr gut“, antwortete der junge Mann.
Wohl nicht so gut, denke ich, war der Prior versucht zu sagen. Er schwieg stattdessen.
Der junge Mann war nun zum wiederholten Male da. Vor gut einem halben Jahr kam er, um den Prior zu fragen, ob er bereit sei, seine Verlobte und ihn zu trauen. Der Prior hatte gerne eingewilligt.
Beim nächsten Gespräch hatte er die Verlobte kennengelernt und man hatte über die Ehe gesprochen. Zum Folgetermin des Paares kam der junge Mann alleine. Er war bedrückt. Seine Verlobte habe die Verlobung gelöst und sei mit einem Anderen über Nacht auf und davon.
Seither kam er in regelmäßigen Abständen. Von Mal zu Mal schien der junge Mann niedergeschlagener und bedrückter. Er hatte zu trinken angefangen und kam selbst an Vormittagen alkoholisiert zum Gespräch.
Der Prior enthielt sich stets jeder Kommentierung, zeigte Anteilnahme und stellte gezielte Fragen, die nur eine Perspektive hatten: Der junge Mann sollte wieder Zugang zu sich und zum Leben bekommen.
„Was möchten Sie mir heute erzählen?“, eröffnete der Prior das Gespräch.
„Gestern“, begann der junge Mann, „stand ich am Abhang einer tiefen Schlucht ...“
Der junge Mann machte eine Pause. Der Prior sah ihn mit eindringlichem und zugleich herzlich zugewandtem Blick an. Er nickte im Ansatz, so als wolle er ihn zum Weitersprechen animieren.
„Für kurze Zeit war mir, als sei ich an den Endpunkt meines Lebens gekommen. Und doch eigenartig: Der Schmerz und die Last der letzten Wochen waren mit einem Mal verflogen. Ein Gefühl von unsagbarer Freiheit erfüllte mich. Schon sah ich mich in die Tiefe fallen. Schneller und schneller dem Abgrund entgegen.“
Nochmals hielt der junge Mann inne.
„Als ich dann den einen Fuß zum Absprung hob, passierte etwas Seltsames. Ich spürte einen leichten Druck auf meiner Schulter. Erschrocken begann ich, zu wanken. Noch rechtzeitig trat ich mit einem Fuß zurück. Als ich festen Stand wiedergefunden hatte, wandte ich meinen Blick zurück. Auf meiner Schulter saß ein Vogel.“
„Ein Vogel?“, unterbrach ihn der Prior. Seine Stimme klang erstaunt und erschreckt zugleich. Es muss der gleiche Vogel sein, dachte er.
„Ja, ein Vogel. Ich war genauso erstaunt. Aber das Erstaunlichste war, dass er sprach. Nur einen Satz, genaugenommen eine Frage: Was machst du da? Dann flog er davon. Erst im Sturzflug in die Tiefe, kurz vor dem Abgrund drehte er ab und gewann wieder an Höhe. Er erreichte die Anhöhe der Schlucht, wo ich wie versteinert stand, flog an mir vorbei und verschwand.“
„Dann müssen wir dem Vogel danken, dass es sie noch gibt.“
„Danken? Ich bin mir nicht sicher.“
„Aber es ist doch ein Zeichen.“
„Ein Zeichen?“
„Ja, ein Zeichen. Aus meiner Sicht schon. Denken Sie zu Hause mal darüber nach. Wir sprechen beim nächsten Mal darüber.“
Irritiert sah der junge Mann auf die Uhr. Das Gespräch hatte gerade mal 10 Minuten gedauert. Der Prior machte keine Anstalten, als wolle er weiterreden. So stand er auf und ging.
Prior Johannes blieb noch eine Weile sitzen. Er schaute aus dem Fenster und versuchte zu verstehen, was er gerade gehört hatte.