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Der weitere Tag verlief im Rhythmus des Klosterlebens. Prior Johannes konnte sich zwischen den Gebetszeiten ganz auf seine Ausarbeitung konzentrieren. Vergessen schien der nächtliche Traum.

In der folgenden Nacht schlief er ruhig. Kein Traum schreckte ihn auf. Ausgeruht konnte er den neuen Tag beginnen.

Am Vormittag schloss er seine Ausarbeitung ab. Geschick nahm er dabei Bezug auf die Schriftlesung des Morgengebets:

„Dient einander als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat. Wer redet, der rede mit den Worten, die Gott ihm gibt; wer dient, der diene aus der Kraft, die Gott verleiht. So wird in allem Gott verherrlicht durch Jesus Christus. Sein ist die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit. Amen.“

Die Worte des 1. Petrusbriefes würden den Abschluss bilden. Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Auch Luther konnte hierzu nur Amen sagen.

Eines war damit nochmals bestätigt: Seine Gabe war es zweifelsfrei, in einer klösterlichen Gemeinschaft zu leben, Menschen in Gastfreundschaft aufzunehmen, ein offenes Ohr zu haben und wenn geboten, angemessen Worte zu finden, die hilfreich sein sollten.

Am späten Nachmittag des folgenden Tages hatte sich eine Frau zu einem Gespräch bei ihm angemeldet.

Das Kloster hatte für diese Anlässe kleiner Besprechungszimmer. Sie waren einfach und schlicht eingerichtet: zwei Stühle, ein kleiner Beistelltisch. An der Wand hing ein Kruzifix. Von diesem Zimmer ging der Blick hinaus in die weite Ebene. Weiden und einige Äcker. Keine Klostermauer begrenzte den Blick ein. Die Dämmerung setzte ein. Das abendliche Licht verlieh allem eine besondere Stimmung.

Prior Johannes begrüßte die Frau, bat sie Platz zu nehmen und zündete eine Kerze auf dem Beistelltisch an.

„Was führt sie zu uns?“, begann der Prior das Gespräch.

Die Frau war etwas überrascht von der Direktheit der Frage. Sie war es gewohnt, dass man anfangs Belanglosigkeiten austauschte, bevor man auf den Punkt kam. Sie atmete tief ein, hielt die Luft für Sekundenbruchteile an und atmete tief aus.

„Es ist so“, begann sie nach einer kurzen Pause, „seit einiger Zeit fühle ich mich sehr matt und niedergeschlagen.“

Die Frau starrte vor sich hin. Ihr Blick verlor sich im Nirgendwo des Raumes. Der Prior wartete, entgegnete nichts. Er hatte gelernt, Geduld zu haben. Voreilige Erwiderungen unterbrachen in der Regel den Gedankenfluss. Gerade am Anfang eines Gespräches war Geduld eine unerlässliche Tugend.

Eine Weile sagte die Frau nichts. Es war ihr anzumerken, dass sie innerlich mit Worten rang, sie suchte und nicht fand, sie fand und doch nicht aussprechen konnte.

„Vor einiger Zeit ist mein Bruder gestorben.“

Wieder eine längere Pause.

„Gestorben ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Er wurde verschleppt ... Sie wissen schon ... und kam nie wieder ...“

Ihre Augen wurden feucht. Sie öffnete ihre Handtasche und holte ein Taschentuch heraus, tupfte eine Träne ab.

„Wir haben lange gehofft, er würde eines Tages wiederkommen. Wir haben gebetet. Wir haben zu Gott geschrien. Ja, manchmal ihn sogar verflucht. Unser Herz war schwer wie Blei.“

Sie rang nach Luft. Wieder Schweigen.

„Wir wollten“, setzte sie irgendwann fort, „ja, wir konnten uns nicht vorstellen, dass etwas Schlimmes mit meinem Bruder war. Schon wegen seiner im fünften Monat schwangeren Frau durfte nichts geschehen sein. Auch sie war außer sich. Wir hatten Sorge, dem Kind, dem noch Ungeborenen könnte etwas zustoßen. So versuchten wir, Ruhe zu bewahren ... Manchmal entfernte ich mich nachts von unserem Haus und schrie meine Verzweiflung in die dunkle Nacht.“

Schweigen. Der Prior konnte ahnen, wie schwer es der Frau fiel, das folgenden auszusprechen.

„Vor einigen Tagen lag eines Morgens der entstellte Leichnam meines Bruders vor unserer Tür. Ein grausamer Anblick. Sein Körper zeigte Spuren von Folter. Er muss fürchterliche Qualen erduldet haben.“

Ein leiser Schrei entfuhr ihr. Sie begann zu schluchzen. Ein wahrer Sturzbach von Tränen quoll aus ihren Augen. Gespenstische Laute kamen aus der Tiefe ihres Inneren. Sie vergaß zu atmen. Konnte sich nicht mehr beruhigen.

Der Prior bewahrte Ruhe. Es spürte, dass die Zeit für die Frau gekommen war, alle Trauer und allem Schmerz Ausdruck zu geben.

Eine gefühlte Ewigkeit verging.

Endlich schien sich die Atmung der Frau wieder zu beruhigen. Der Prior reichte ihr ein Taschentuch.

„Wissen Sie“, begann sie mit erstickter Stimme, „eigentlich hatte wir die Hoffnung längst aufgeben. Meine Schwägerin stand doch kurz vor der Geburt. Alle Aufmerksamkeit galt ihr und dem Kind.“

Sie holte tief Atem.

„Ich war es, der ihn fand. Mein erster Gedanke war: das Kind. Meine Schwägerin darf ihn so nicht sehen. Aber während ich noch überlegte, was zu tun sei, stand sie hinter mir. Sie brach sofort zusammen. Als sie wieder zu sich kam, versuchte ich sie zu beruhigen. Sie weinte, sie schrie ... Durch ihren ganzen Körper ging ein Aufbäumen. Ich habe bis dahin nicht gewusst, welche Kräfte in einem Menschen sein können ... Ich hatte Angst um das Kind ... Es ist doch das Einzige, was uns nun noch von meinem Bruder bleibt.“

Ganz unvermittelt fragte der Prior:

„Ist das Kind schon geboren.“

„Ja, es kam gestern zur Welt ... einen Tag, nachdem wir unseren Bruder begraben haben.“

Schweigen ... Stille ...

Der lachende Vogel

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