Читать книгу Der lachende Vogel - Thomas Reinhold Reppich - Страница 4
ОглавлениеDas Kloster lag am Hang der Kordillere. In der Ferne war die große Stadt mit ihren unzähligen in den Himmel ragenden Hochhäusern zu sehen. Nur vage konnte man das Stadtleben mit aller Betriebsamkeit und allem Lärm erahnen. Die kleine Gemeinschaft der Mönche lebte seit Jahrzehnten in der Abgeschiedenheit und Ferne all dessen, was für andere Mittelpunkt des Lebens war. All die Jahre waren es nie mehr als 12 Brüder gewesen, die das klösterliche Leben miteinander teilten.
Gerne kamen Menschen ins Kloster. Manche hielten Einkehr, suchten die Ruhe, vielleicht sich selbst in dem schlichten Alltag der Mönche. Andere kamen mit den Sorgen ihres Alltags, um eine Antwort auf das, was sie umtrieb, zu finden. Glaubensfragen zu stellen, war hier nicht peinlich. Die Mönche hörten zu, schwiegen und fanden manchmal passende Worte.
Häufig verließen die Besucher verändert das Kloster, ohne direkt sagen zu können, was es war. Ihr Gang war leichter. Der Boden schien fester geworden zu sein, manche Gesichter erfüllte ein Strahlen.
Am frühen Nachmittag verdunkelte sich meist der Himmel. Man hätte die Uhr danach stellen können. Unberührt von den niedergehenden Regenschauern nahm das Klosterleben seinen Lauf.
Es waren die Stürme des Lebens, die die Besucher mitbrachten. Ehefrauen, die um ihre erschossenen Männer trauerten. Eltern, deren Kinder entführt, oder seit Jahren verschwunden und nicht wieder aufgetaucht waren.
Das Land schien nicht zur Ruhe kommen zu können. Immer noch wüteten alle Formen der Gewalt, die sich der menschliche Geist ausdenken konnte. Unermessliche schien das Leid derer zu sein, deren Weg manchmal ins Kloster führte. Wie zuletzt das eines Elternpaares, deren Tochter vor der Schule in einen Krankenwagen gezehrt und Stunden später wie ein Sack Müll am Straßenrand entsorgt wurde. Sie war ausgeweidet worden. Alles, was man für den internationalen Transplantationsmarkt gebrauchen konnte, hatte man ihr entnommen. Die leblose Hülle zeigte keine Ähnlichkeit mit dem fröhlichen Kind, das morgens singend das Haus verlassen hatte.
Was war es, was Menschen in den extremsten Augenblicken ihres Lebens im Kloster suchten? Erhofften sie eine Antwort auf die alte Frage: Warum?
Was konnten die Brüder in solchen Momenten überhaupt sagen? Einen höheren Sinn hinter allem zu ergründen, war nicht möglich. Bisweilen geschah es, dass selbst ihr fester und unerschütterlich scheinender Glauben ins Wanken geriet. Und dann erfasste sie, dieser hadernde und voller Wut erfüllte Satz: Wie kannst du Gott all diesem Wüten und Treiben tatenlos zusehen?
Die Stundengebete waren es, die die Brüder wieder Kraft und Ruhe finden ließen. Das Gehörte ließ sich dennoch nicht abschütteln, wie der frische Nachmittagsregen von ihrem Gewand beim Eintritt in ihr Zimmer.
Das Gehörte hinterließ Spuren, bleibende Spuren. Ob sich die Besucher darüber im Klaren waren, wenn sie das Klostergelände betraten?
Äußerlich schien es, als könne den Brüdern all dies nichts anhaben. Sie begegneten jedem neuen Besucher mit der gleichen Offenheit und Herzlichkeit, die nichts erahnen ließ, von dem, was ihnen eben noch anvertraut worden war. Und doch kam es vor, dass auch die Brüder für Augenblicke ihre Fassung verloren.
So wie eines Nachmittags, als ein Bruder für einige Zeit im Schatten der Kirche verweilte und sichtlich nach Atem rang.