Читать книгу Der lachende Vogel - Thomas Reinhold Reppich - Страница 9
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Noch lange stand Prior Johannes an diesem Abend am Fenster seines Zimmers. In der Ferne sah er das Flimmern der Lichter der großen Stadt. Er war zufrieden mit seinem Tagewerk. Der Vortrag stand in seiner Grundfassung. Er hatte noch ausreichend Zeit ihn redaktionell zu überarbeiten.
Nächtliche Stille umgab das Kloster. Auf einem Nachbarhof war das Bellen der Hunde zu hören. Sie schlugen immer an, wenn sich jemand nur dem Grundstück näherte. Wen sie kannten, ließen sie in Ruhe.
Prior Johannes mochten sie. Manchmal brachte er ihnen einen ausgekochten Markknochen mit. Wenn sie in kommen sahen, kamen sie ihm schwanzwedelnd entgegen. Mit seinem freundlichen Blick und seiner ruhigen und nie lauten Stimme hatte er ihr Vertrauen gewonnen.
In der Abgeschiedenheit des Klosters es die ruhigen Töne, Töne, die man im lauten Treiben der großen Stadt schnell überhört oder gar nicht erst wahrgenommen hätte, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie ließen ihn aufhorchen. So stand er oft abends lange am geöffneten Fenster und lauschte in die Nacht.
Zu vielen dieser Töne gab es kleine Geschichten. Vor einiger Zeit hörte er eines Abends etwas. Es hörte sich aus der Ferne wie die Unterhaltung zweier Personen an. Beim Näherkommen klang es dann wie ein fröhliches Pfeifen. Der Bauer des Nachbarhofes klärte ihn Tage später auf. Es war ein Gürteltier, das sich ab und an in die Region verirrte und wohl „pfeifend“ seines Weges zog. Bei einigen der angrenzenden Bauern weckte das Pfeifen einen Jagdinstinkt. Gürteltiere waren wegen ihres schmackhaften Fleisches durchaus begehrt, letztlich aber schwer zu jagen, weil doch eher nachtaktiv.
Tiere wie das Gürteltier, die man kaum zu Gesicht bekam, interessierten Prior Johannes in besonderer Weise. Er hatte gelesen, dass dem Tatu, wie das Gürteltier bei den Guarani genannt wird, magische Kräfte zugesprochen wurden. Als heiliges Wesen sei es Mittler zwischen Himmel und Erde.
Hätte der Prior eine Familie gehabt, dann hätte er seinen Kindern allabendlich die Geschichte vom weisen Gürteltier erzählt, das ab und an die Menschen besuchte, um ihnen nahezubringen, doch verantwortungsvoller mit der Natur umzugehen.
In die Mythologie dieses Landes einzutauchen, war ihm anfangs im Kloster schwergefallen. Immer wieder kamen die verschiedensten Legenden der Einwohner zur Sprache. Er hatte in den Jahren gelernt, diese nicht mehr wie anfangs abwertend zu betrachten. Es waren Geschichten, die halfen, das Leben manchmal anders zu verstehen.
Mit Fug und Recht konnte man dies von so mancher in der Bibel dokumentierten Geschichte oder Erzählung sagen. Und dennoch jenseits der Frage nach Historizität beschrieben auch sie eine tiefere Weisheit.
In der Nacht hatte der Prior einen seltsamen Traum: In einem ihm unbekannten Land war er auf Wanderschaft. Als er eines Abends nach einer Übernachtungsmöglichkeit Ausschau hielt, musste er lange suchen. Es war schon dunkel geworden, als er endlich eine kleine Hütte sah. Vor dieser saß jemand im Schein einer Laterne. Es war ein alter Mönch. Er war anders als die ihm sonst bekannten Mönche gekleidet. Sein buntes Kleid leuchtete noch im Kerzenschein.
„Guter Mann“, sprach er ihn an. „Hast du einen Platz für mich, wo ich mich niederlegen kann?“
Der alte Mönch schüttelte den Kopf.
„Ich bin auch nicht anspruchsvoll. Lass mich rein, ich kann mich auch auf den Boden legen. Hier draußen habe ich nur Angst vor den wilden Tieren.“
Wiederum schüttelte der alte Mönch den Kopf.
„Wie kannst du nur so herzlos sein“, protestierte er. „Willst du mich den wilden Tieren preisgeben?“
„Wilde Tiere“, lachte der alte Mönch. „Sie sind allein in deinem Kopf.“