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4. Kapitel Das Gesundheitswesen in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland › D. Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG

D. Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG

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Die Menschenwürde betrifft insbesondere die Achtung und den Schutz der körperlichen Integrität, die Sicherung menschengerechter Lebensgrundlagen, die Gewährleistung elementarer Rechtsgleichheit sowie die Wahrung der personalen Identität und Integrität.[1] Die Absolutheit des Wortlauts der Norm darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit nach h.M. keineswegs jedwede Beeinträchtigung unzulässig ist, sondern nur der sog. „Kernbereich“ menschlicher Existenz vor schwereren Beeinträchtigungen geschützt werden soll. Höfling[2] spricht daher zu Recht von einer sog. „Tabugrenze“. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[3] behilft sich mit der sog. „Objekt-Subjekt-Formel“, d.h. der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt herabgewürdigt werden. Wie schwierig die Menschenwürde im Rahmen konkreter Fragestellungen als Abgrenzungskriterium zu handhaben ist, zeigt die Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik[4] (hierzu s. Kap. 29 Rn. 28 ff. und zur gesetzlichen Neuregelung in § 3a ESchG[5] m.w.N.) und das therapeutische Klonen. Selbst wenn man unter Auslegung einfachen Rechts zu einer Zulässigkeit der PID gelangen könne, bleibe letztlich der verfassungsrechtliche Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), der auch dem Embryo von Anfang an, und nicht erst nach Nidation, zustehe.[6] Die gegenteilige Auffassung könne sich nicht auf die Entscheidungen des BVerfG zu § 218 StGB berufen, da dort nur die Phase ab Nidation zur Entscheidung anstand. Kritiker[7] verweisen demgegenüber darauf, dass es keine absolute Unantastbarkeit gebe. Dies zeigten nicht nur die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Reform des § 218 StGB, wo gerade der Anspruch der einen Existenz gegenüber der anderen relativiert werde (im Indikationenmodell), sondern auch die arzneimittel- und medizinproduktrechtliche Zulassung nidationshemmender Mittel. Wenn auf die Vollkommenheit des genetischen codes mit Abschluss der Befruchtung und damit der Beginn des Menschseins abgestellt werde, vergesse man, dass diese Würde erst richtig „mit Leben“ erfüllt werde, wenn die Nidation gelinge.[8] Ohne Nidation bleibt eben alles Stückwerk, dem absoluten Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG zum Trotz. Die Fragestellung spitzt sich im Bereich des therapeutischen Klonens zu. Denn zu Recht drängt sich hier die Frage nach der reinen Instrumentalisierung von Embryonen geradezu auf. Deshalb könnte man es sich einfach machen und alleine mit Verweis auf die Entscheidungen des BVerfG[9] zu § 218 StGB schon eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG sehen. Dass dies nicht zwingend ist, zeigen die mindestens drei weiteren Grundpositionen zu der Frage, inwieweit der Embryo „Menschenwürde“ innehabe.[10] Während die extreme Gegenposition[11] Menschenwürde nur dem geborenen Menschen zusprechen will, trennen andere wiederum zwischen Mensch und Person. Zunehmende Relevanz bekommt die Konzeption eines „abgestuften Menschenwürdeschutzes“, der zwar grundsätzlich die Konzeption als „Initialzündung“ für die Potentialität eines Menschen akzeptiert, was aber nicht zwingend bedeute, dass der Embryo von Anfang an Träger der Menschenwürde sein könne oder gar müsse.[12] Dies könne z.B. dann verneint werden, wenn noch keine Individuation (also z.B. vor der Nidation) eingetreten sei oder feststehe, dass diese nie eintrete,[13] was im Falle des therapeutischen Klonens ja gerade der Regelfall ist.

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So sehr das Konzept des „abgestuften Menschenwürdeschutzes“ für den Beginn des Lebens z.B. im Rahmen der Diskussion um § 218 passen kann, so problematisch können ähnliche Überlegungen am Ende des Lebens sein. Denn zweifellos hat gerade der Moribunde besonderen Anspruch auf Achtung seiner Würde, was nicht zuletzt im Respekt vor der noch bei Entscheidungsfähigkeit geäußerten Verfügung über lebenserhaltende oder -verlängernde Maßnahmen zum Ausdruck kommt.[14] Dies zeigt die anhaltende Diskussion um die Zulässigkeit der Sterbehilfe oder das Begleiten im Sterben durch Ärzte. Während die Bundesärztekammer[15] einen eher restriktiven Standpunkt einnimmt und § 16 MBO sogar ein Verbot der ärztlichen Suizidbeihilfe enthält[16], stellt die neuere Rechtsprechung eher das Selbstbestimmungsrecht als Ausfluss des Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in den Vordergrund.[17] Aus der Entscheidung des BGH[18] vom 2.4.2019 lässt sich nichts gegenteiliges herleiten, weil nach dem zu beurteilenden Sachverhalt der Patientenwille unklar war. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts[19] zur Nichtigkeit des § 217 StGB ist ein vorläufiger Schlusspunkt zu dieser Frage gesetzt worden. Wie nicht anders zu erwarten löste diese Entscheidung heftige Kritik aus, die jedoch in der Sache unbegründet ist.[20] Erste Reformüberlegungen sind jedoch bereits im Gange. Feststeht jedenfalls, dass § 16 MBO, der ohnehin bislang nur in 10 von 17 Landesärztekammern umgesetzt war, in dieser Form nicht fortbestehen wird und schon jetzt, obwohl noch nicht geändert, keine Grundlage für Sanktionen mehr sein kann.[21] Folgende Voraussetzungen dürften nach der Entscheidung des BVerfG bis zu einer Neuregelung erfüllt werden müssen: Ergebnisoffene Beratung, Aufklärung einschließlich der Aufklärung über Alternativen, Einsichtnahme in medizinische Unterlagen, Fachärztliche Untersuchung, ggf. Patientenverfügung einschl. Entbindung von der Rettungspflicht, Einwilligungsfähigkeit des Suizidwilligen, kein Zwang durch Drohung oder Täuschung, Einnahme des tödlichen Mittels durch den Patienten selbst und keine Verschreibung/Überlassung von betäubungsmittelrechtlich verbotenen Mitteln.

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Erhebliche Diskussionen hat die Neuregelung des Umfangs der Personensorge bei einer Beschneidung eines männlichen Kindes in § 1631d BGB[22] ausgelöst.[23] Während Grams[24] von einer verfassungswidrigen Legalisierung der Körperverletzung und Verstößen gegen Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG spricht, hält Höfling[25] diese Kritik für überzogen.[26] Dass die Debatte gerade in Deutschland schwierig war und ist, kann niemanden verwundern. Statt gegenseitiger Vorhaltungen würde man sich allerdings mehr Faktensicherheit sowohl in historischer und medizinischer Hinsicht wünschen.

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Mit Urteil vom 24.7.2018 hat das BVerfG einschneidende Grenzlinien zur Zulässigkeit der Fixierung in Krankenhäusern, Heimen und Justizverwaltungen gezogen.[27] Danach kann eine Fixierung nur zur Abwendung einer drohenden gewichtigen Gesundheitsentscheidung sowohl des Betroffenen selbst, als auch anderer Personen wie des Pflegepersonals oder der Ärzte gerechtfertigt sein. Es darf nur fixiert werden, wenn mildere Mittel nicht in Betracht kommen. In einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt ist die Beteiligung eines Arztes unabdingbar. Die Fixierung bedarf einer Eins-zu-Eins-Betreuung durch therapeutisches oder pflegerisches Personal. Die Anordnung einer Fixierung, die maßgeblichen Gründe hierfür, ihre Durchsetzung, Dauer und die Art der Überwachung sind zu dokumentieren, um die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu wahren, eine fortlaufende Qualitätssicherung zu gewährleisten und einen nachlaufenden Rechtsschutz zu ermöglichen.[28] Dauert die Fixierung länger als eine halbe Stunde, ist eine richterliche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen (Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG). Dies sei nur dann entbehrlich, wenn zu Beginn der Maßnahme abzusehen ist, dass die Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes der Maßnahme ergehen werde oder die Maßnahme vor Herbeiführung der Entscheidung tatsächlich beendet sei und keine Wiederholung zur erwarten wäre.[29] Der Betroffene kann aber auch in diesen Fällen die Rechtmäßigkeit der Maßnahme gerichtlich überprüfen lassen. Das BVerfG fordert zur Gewährleistung des Richtervorbehalts einen kalendertäglichen richterlichen Bereitschaftsdienst, also auch an Sonn- und Feiertagen, und zwar von sechs Uhr morgens bis 21 Uhr abends. Zuständig sind die Fachgerichte, die für die jeweilige Einrichtung angerufen werden können, also z.B. die Verwaltungsgerichte für Auslieferungs- und Abschiebehäftlinge, die Strafgerichte für Strafhäftlinge sowie den Maßregelvollzug und die Sicherungsverwahrung oder auch die Betreuungsgerichte. Für den Straf- und Maßregelvollzug hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Stärkung der Rechte von Betroffenen bei Fixierungen im Rahmen von Freiheitsentziehungen vom 28.6.2019 reagiert.[30]

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