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4. Kapitel Das Gesundheitswesen in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland › E. Freiheit von Wissenschaft, Lehre und Forschung, Art. 5 Abs. 3 GG

E. Freiheit von Wissenschaft, Lehre und Forschung, Art. 5 Abs. 3 GG

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Schutzsubjekt ist zunächst die Wissenschaftsfreiheit als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Zweiter Regelungsbereich ist insbesondere mit Blick auf die Lehre die Hochschulmedizin. In diesem Bereich hat sich durch die Föderalismusreform einiges geändert. Anstelle der früheren Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes ist beim Bund nur noch das Recht der Hochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse geblieben (Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 GG). Das übrige Hochschulrecht fällt jetzt in die alleinige Gesetzgebungszuständigkeit der Länder (Art. 70 GG). Grundrechtsschutz genießen nicht nur die Universitäten[1] als Ganzes, sondern auch Fakultäten und Fachbereiche als Untergliederungen.

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Das Bundesverfassungsgericht zum sachlichen Gewährleistungsanspruch der Wissenschaftsfreiheit:[2]

Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG erklärt Wissenschaft, Forschung und Lehre für frei. Damit wird nicht nur eine objektive Grundsatznorm für den Bereich der Wissenschaft aufgestellt. Ebenso wenig erschöpft sich das Grundrecht in einer auf wissenschaftliche Institutionen und Berufe bezogenen Gewährleistung der Funktionsbedingungen professionell betriebener Wissenschaft. Als Abwehrrecht sichert es vielmehr jedem, der sich wissenschaftlich betätigt, Freiheit von staatlicher Beschränkung zu (vgl. BVerfGE 15, 256, 263). Gegenstand dieser Freiheit sind vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei der Suche nach Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe. Damit sich die Wissenschaft ungehindert an dem für sie kennzeichnenden Bemühen um Wahrheit ausrichten kann, ist sie zu einem von staatlicher Fremdbestimmung freien Bereich autonomer Verantwortung erklärt worden (vgl. BVerfGE 35, 79, 112 f.; 47, 327, 367 f.). Jeder, der wissenschaftlich tätig ist, genießt daher Schutz vor staatlichen Einwirkungen auf den Prozess der Gewinnung von Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG schützt aber nicht eine bestimmte Auffassung von Wissenschaft oder eine bestimmte Wissenschaftstheorie. Das wäre mit der prinzipiellen Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit unvereinbar, die der Wissenschaft trotz des für sie konstitutiven Wahrheitsbezugs eignet (vgl. BVerfGE 35, 79, 113; 47, 327, 367 f.). Der Schutz dieses Grundrechts hängt weder von der Richtigkeit der Methoden und Ergebnisse ab, noch der Stichhaltigkeit der Argumentation und der Beweisführung oder der Vollständigkeit der Gesichtspunkte und Belege, die einem wissenschaftlichen Werk zugrunde liegen. Über gute und schlechte Wissenschaft, Wahrheit und Unwahrheit von Ergebnissen kann nur wissenschaftlich geurteilt werden (vgl. BVerfGE 5, 85, 145). Auffassungen, die sich in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt haben, bleiben der Revision und dem Wandel unterworfen. Die Wissenschaftsfreiheit schützt daher auch Mindermeinungen sowie Forschungsansätze und -ergebnisse, die sich als irrig oder fehlerhaft erweisen. Ebenso genießt unorthodoxes oder intuitives Vorgehen den Schutz des Grundrechts. Voraussetzung ist nur, dass es sich dabei um Wissenschaft handelt; darunter fällt alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter Versuch zur Ermittlung von Wahrheit anzusehen ist (vgl. BVerfGE 35, 79, 113; 47, 327, 367). Aus der Offenheit und der Wandelbarkeit von Wissenschaft, von der der Wissenschaftsbegriff des Grundgesetzes ausgeht, folgt aber nicht, dass eine Veröffentlichung schon deshalb als wissenschaftlich zu gelten hat, weil ihr Autor sie als wissenschaftlich ansieht oder bezeichnet. Denn die Einordnung unter die Wissenschaftsfreiheit, die nicht dem Vorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG unterliegt (vgl. BVerfGE 35, 79, 112), kann nicht allein von der Beurteilung desjenigen abhängen, der das Grundrecht für sich in Anspruch nimmt. Soweit es auf die Zulässigkeit einer Beschränkung zum Zwecke des Jugendschutzes (vgl. BVerfGE 83, 130, 139) oder eines anderen verfassungsrechtlich geschützten Gutes (vgl. BVerfGE 81, 278, 292) ankommt, sind vielmehr auch Behörden und Gericht zu der Prüfung befugt, ob ein Werk das Merkmal des – weit zu verstehenden – Wissenschaftsbegriffs erfüllt.

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Forschung ist ein Unterfall des Wissenschaftsbegriffs.[3] Zu Recht weist Zuck[4] darauf hin, dass der früher streng universitär geprägte Forschungsbegriff angesichts der zunehmenden Verlagerung in außeruniversitäre Institutionen und Einrichtungen offener gestaltet werden muss und man daher von einem eigenständigen Grundrecht auf Forschungsfreiheit auszugehen hat. Der besondere Charakter als individuelles Freiheitsrecht kommt nicht nur dadurch zur Geltung, dass die Einschränkung in Art. 5 Abs. 2 GG für Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG nicht gilt, da Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG als lex specialis zu Art. 5 Abs. 1 GG anzusehen ist[5] und deshalb Art. 5 Abs. 2 GG mit seinem allgemeinen Gesetzesinhalt für Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gerade nicht gilt. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG kann daher Schranken im Wesentlichen nur durch kollidierendes Verfassungsrecht erfahren.[6] Dies können z.B. der Schutz des Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG im Hinblick auf persönliche Daten sein (Informationelle Selbstbestimmung), der Tierschutz gemäß Art. 20a GG oder auch die Freiheit der Berufsausübung gemäß Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG. Praktisches Beispiel für die Kollision zwischen Forschungsfreiheit einerseits und Garantie der Menschenwürde andererseits ist die Diskussion um die Forschung an embryonalen Stammzellen, die durch das Stammzellgesetz[7] keineswegs als abgeschlossen gilt.[8] Bei allem Verständnis für die Kontroverse und zum Teil erheblich weltanschaulich überlagerte Diskussion, ist die Formulierung von Middel[9] unter Verweis auf Art. 5 Abs. 3 GG treffend, wonach nicht die Forschung, auch nicht die humangenetische, der Legitimation bedarf, sondern ihre Beschränkung begründungsbedürftig ist. Dies wird angesichts des dynamischen Nutzens der Forschungsergebnisse überdeutlich, z.B. den sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen. Solche humanen indizierten pluripotenten Stammzellen (hiPS-Zellen) stehen dann im Rahmen einer sogenannten personalisierten Medizin für Studien zur Krankheitsentstehung, Medikamentenentwicklung und regenerativen Therapien zur Verfügung. HiPS-Zellen können ähnlich wie ehS-Zellen Zellen herstellen, ohne den als ethisch und rechtlich schwierig angesehenen Verbrauch von Embryonen zu begünstigen. Diesen Gesichtspunkt untersuchen Gerke und Taupitz[10] in ihrer Abhandlung zu rechtlichen Aspekten der Stammzellforschung in Deutschland, insbesondere den Grenzen der Forschung mit heS- und hiPS-Zellen. Zurecht sehen sie die Restriktionen durch das 2002 in Kraft getretene Stammzellgesetz (StZG) kritisch. Sie sehen die Forschung mit hiPS-Zellen grundsätzlich als Option, da sie aus körpereigenen Zellen gewonnen werden und damit das Risiko einer Immunabwehrreaktion in potentiellen zukünftigen autologen Therapien vermindert werden kann. Die Autoren kommen zum Ergebnis, das hiPS-Zellen nicht unter § 3 Nr. 2 StZG fallen, weshalb es keiner Genehmigung des RKI bedürfe, um an hiPS-Zellen zu forschen. Dementsprechend sei es auch nicht verboten, hiPS-Zellen zu diagnostischen, präventiven und therapeutischen Zwecken zu verwenden. Schwierig ist allerdings die Frage, inwieweit der Zugriff auf hiPS-Zellen die Genehmigungsfähigkeit der Einfuhr von heS-Zellen durch das RKI erschwert (Stichwort „Alternativlosigkeit“ § 5 StZG). Die Autoren vertreten die Auffassung, dass dies nicht der Fall sein dürfte.

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Verfassungsrechtliche Fragen stellen sich auch im Bereich der Xenotransplantation. In seiner Stellungnahme vom 27.9.2011 hat der Deutsche Ethikrat zwar enge Grenzen definiert, in einigen Varianten jedoch die Forschung für vertretbar, jedenfalls nicht schlechthin unzulässig bewertet. „Die Schaffung von Mäusen als „Modellorganismen“ zur Erforschung menschlicher Krankheiten durch Einfügung krankheitsspezifischer humaner Gene in das Mausgenom ist bereits seit den 1980er-Jahren breit etabliert. Mittlerweile arbeiten die Forscher daran, nicht nur Gene, sondern ganze Chromosomen zu übertragen. Darüber hinaus werden u.a. aus menschlichen Stammzellen gewonnene Nerven-Vorläuferzellen in das Gehirn von Versuchstieren, auch Primaten, übertragen, um Krankheiten wie Alzheimer-Demenz und Morbus Parkinson zu erforschen und später vielleicht behandeln zu können. Durch solche Experimente wird die biologische Artgrenze zwischen Mensch und Tier immer mehr infrage gestellt. Der Ethikrat sieht daher Klärungsbedarf, welche ethischen Herausforderungen mit der Herstellung von Mensch-Tier-Mischwesen verbunden und wo gegebenenfalls verbindliche Grenzen zu ziehen sind. Der Ethikrat hat dabei den Fokus auf die Übertragung menschlichen Materials auf Tiere gelegt und dies an drei Beispielen untersucht: an zytoplasmatischen Hybriden (Zybriden), wie sie bei der Einfügung des Kerns einer menschlichen Zelle in eine entkernte tierische Eizelle entstehen, an transgenen Tieren mit menschlichem Erbmaterial und am Beispiel der Übertragung menschlicher Zellen in das Gehirn fetaler oder adulter Tiere (Hirnchimären).“ Zu diesen Beispielen legt der Ethikrat Empfehlungen vor, von denen die wichtigsten in der Stellungnahme vorgestellt werden. Seit dieser Stellungnahme hat die diesbezügliche Forschung weltweit riesige Fortschritte gemacht, vor denen man in Deutschland nicht einfach die Augen verschließen kann.

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