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§ 6 Verwaltungsverfahren

I. Bedeutung des Verwaltungsverfahrens

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Das Verwaltungsverfahren umschreibt den Weg zu einer Entscheidung der öffentlichen Verwaltung. Nach klassischem deutschem Verständnis hatte das Verwaltungsverfahren lediglich eine dienende Funktion zur Durchsetzung und Verwirklichung des materiellen Rechts[1]. Es unterliegt jedoch einem zunehmenden Bedeutungswandel[2]: Nicht unwesentlich geprägt von den Einflüssen des Unionsrechts, setzt sich immer stärker die Erkenntnis durch, dass das Verfahren einen gewissen Eigenwert aufweist. Denn es zielt primär auf die Gewinnung einer rechtmäßigen und auch im Übrigen „richtigen“ Entscheidung ab. Und je sorgfältiger das Verfahren ausgestaltet ist, umso größer erscheint diese Richtigkeitsgewähr. Dies gilt gerade auch für die intensiv diskutierte Ausweitung der Öffentlichkeitsbeteiligung[3]. Darüber hinaus dient es auch der Informationsgewinnung sowie der Wahrung von Transparenz[4]. Andererseits weist das Verfahren keinen reinen Selbstzweck auf. Insbes. muss es auch effizient ausgestaltet sein, damit die das Verfahren abschließende Entscheidung möglichst zeitnah getroffen werden kann.

II. Begriff des Verwaltungsverfahrens

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Begrifflich kann zwischen drei Arten des Verwaltungsverfahrens unterschieden werden. Das Verwaltungsverfahren im engeren Sinne ist in § 9 umschrieben: Es ist die nach außen gerichtete Tätigkeit der Behörden, welche auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsakts oder den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags gerichtet ist. Aus dem Erfordernis der Außenwirkung folgt zunächst, dass rein interne Vorgänge nicht erfasst werden. Zudem ist das Verwaltungsverfahren begrenzt auf die beiden Handlungsformen des Verwaltungsakts und des öffentlich-rechtlichen Vertrags. Alle weiteren Handlungsformen der öffentlichen Verwaltung werden also nicht erfasst (zu den Handlungsformen im Überblick s.u. § 11).

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Das Verwaltungsverfahren im weiteren Sinne liegt indirekt § 1 zugrunde. Es erstreckt sich auch auf die anderen öffentlich-rechtlichen Handlungsformen der öffentlichen Verwaltung, also auch auf schlichtes Verwaltungshandeln, sofern es dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist (s.o. Rn 38 f). Die Begrenzung auf Handlungsformen des öffentlichen Rechts ergibt sich hier aus dem Anwendungsbereich des VwVfG. Schließlich handelt es sich bei Verwaltungsverfahren im weitesten Sinne um Verfahren vor der öffentlichen Verwaltung, die im Zusammenhang mit einer nicht-hoheitlichen Entscheidung durchgeführt werden. Zu diesen Verwaltungsverfahren im weitesten Sinne gehören wegen der grundsätzlichen Zuordnung zum Privatrecht etwa Vergabeverfahren (s.u. Rn 876)[5].

III. Das nicht-förmliche Verwaltungsverfahren (§§ 10 ff VwVfG)

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Das nicht-förmliche Verwaltungsverfahren bildet nach der Vorstellung des Gesetzgebers das Grundmodell des Verwaltungsverfahrens[6]. Es ist in §§ 10–30 geregelt. Die Bezeichnung als „nicht-förmlich“ ist auf die Bestimmung des § 10 zurückzuführen: Nach dessen Satz 1 ist das Verwaltungsverfahren i.S.d. § 9 an bestimmte Formen nicht gebunden, soweit keine besonderen Rechtsvorschriften für das Verfahren bestehen. Allerdings werden in §§ 22 ff. Verfahrensrechte und andere Verfahrensgrundsätze geregelt, welche den Grundsatz der Nichtförmlichkeit nicht unbeträchtlich wieder einschränken. Von besonderer Bedeutung für verwaltungsrechtliche Klausuren sind das Anhörungsrecht der Beteiligten nach § 28 sowie das Akteneinsichtsrecht nach § 29. Da die besondere Bedeutung des nicht-förmlichen Verwaltungsverfahrens beim Erlass eines Verwaltungsakts besonders zum Tragen kommt, soll es an dortiger Stelle ausführlicher behandelt werden (s.u. Rn 478 ff).

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Zu beachten ist zudem auch an dieser Stelle die Subsidiarität des VwVfG (s.o. Rn 104 f): Spezialgesetzliche Verfahrensbestimmungen haben Vorrang gegenüber den Regelungen des VwVfG. So ist etwa das Verfahren zur Erteilung einer Baugenehmigung in den jeweiligen Landesbauordnungen besonders ausgestaltet[7]. Deshalb richtet sich die Beteiligung der von einem Bauvorhaben betroffenen Nachbarn nach den jeweiligen Sondervorschriften der Landesbauordnungen zur Nachbarbeteiligung. Die allgemeine Vorschrift zur Anhörung nach § 28 wird insoweit verdrängt.

IV. Besondere Verfahrensarten

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Neben dem in §§ 10 ff geregelten allgemeinen und nicht-förmlichen Verfahren sieht das VwVfG auch einige besondere Verfahrensarten vor. Da diese im Rahmen der Pflichtvorlesungen zum Allgemeinen und Besonderen Verwaltungsrecht aber von untergeordneter Bedeutung sind, sollen sie an dieser Stelle lediglich kurz vorgestellt werden. Um keine eigenständige Verfahrensart handelt es sich bei digitalisierten Verwaltungsverfahren; denn bei ihnen werden regelmäßig nur die allgemeinen Verfahrensanforderungen modifiziert[8]. Daher werden sie im Rahmen des Verfahrens zum Erlass eines Verwaltungsakts behandelt (s.u. Rn 410 ff.). Ebenfalls um keine eigenständige Verfahrensart handelt es sich bei den sog. Massenverfahren, welche sich durch eine große Anzahl an Verfahrensbeteiligten auszeichnen. Denn auch hier werden die allgemeinen Verfahrensgebote in §§ 17–19 modifiziert[9].

1. Das förmliche Verfahren (§§ 63 ff VwVfG)

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Das förmliche Verwaltungsverfahren ist in §§ 63 ff geregelt. Es verdankt seinem Namen der im Vergleich zum Verfahren nach §§ 10 ff der vergleichsweise starken Formalisierung durch die Anordnung bestimmter Verfahrensgebote. So sieht etwa § 68 einen Erörterungstermin vor, der im nicht-förmlichen Verfahren nicht durchzuführen ist. Das förmliche Verfahren kommt gemäß § 63 Abs. 1 aber nur zu Anwendung, wenn dies durch Rechtsvorschrift angeordnet ist. Da der Gesetzgeber nur selten von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, ist auch die praktische Bedeutung des förmlichen Verfahrens gering[10].

2. Planfeststellungsverfahren (§§ 72 ff VwVfG)

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Weitaus bedeutsamer ist demgegenüber das in §§ 72 ff geregelte Planfeststellungsverfahren. Es knüpft in vielerlei Hinsicht an das förmliche Verwaltungsverfahren an, geht jedoch im Grad der Formalisierung über dieses hinaus[11]. So enthält etwa § 73 eine (sehr) ausführliche Bestimmung zum Anhörungsverfahren. Das Planfeststellungsverfahren muss gemäß § 72 Abs. 1 zwar ebenfalls vom Gesetzgeber angeordnet werden. Im Gegensatz zum förmlichen Verfahren hat der Gesetzgeber von dieser Möglichkeit aber sehr häufig Gebrauch gemacht. Insbes. unterliegen viele Infrastrukturvorhaben, wie etwa der Bau von Bundesfernstraßen, der Planfeststellungspflicht (vgl. etwa § 17 Abs. 1 S. 1 FStrG). Da die Bestimmungen des VwVfG zum Planfeststellungsverfahren aber durch viele Sonderregelungen ergänzt oder überlagert werden, ist die Rechtslage sogar für Fachrechtler oftmals nur noch schwer überschaubar.

3. Verfahren über eine einheitliche Stelle (§§ 71a ff VwVfG)

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Im VwVfG zwischen dem förmlichen Verfahren und dem Planfeststellungsverfahren angesiedelt ist das Verfahren über eine einheitliche Stelle nach §§ 71a ff. Es verdankt diesen Standort allerdings nicht einer inhaltlichen Nähe zu den beiden es umschließenden Verfahrensarten, sondern dem Zufall, dass die zuvor in §§ 71a ff VwVfG a.F. enthaltenen Vorschriften zur Genehmigungsverfahrensbeschleunigung 2009 aufgehoben worden sind[12]. Die Einführung des Verfahrens über eine einheitliche Stelle beruht auf den Vorgaben der europäischen Dienstleistungsrichtlinie. Die einheitliche Stelle hat die Funktion eines Verfahrenskoordinators für Dienstleister. Bereits der Zusatz „über“ verdeutlicht, dass die Zuständigkeit der für die jeweiligen Verfahren verantwortlichen Behörden unberührt bleibt[13]. Das Verfahren über die einheitliche Stelle muss gemäß § 71a ebenfalls spezialgesetzlich angeordnet werden[14]. Ein entsprechender Anwendungsbefehl findet sich etwa in § 6b GewO[15].

4. Rechtsbehelfsverfahren (§§ 79 f VwVfG)

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Ausdrücklich geregelt sind schließlich die Rechtsbehelfsverfahren gegen Verwaltungsakte in §§ 79 f VwVfG. Allerdings verweist § 79, 1. Hs. VwVfG für diese Verfahren grundsätzlich auf die VwGO weiter und erklärt das VwVfG lediglich im Übrigen für anwendbar. Darin kommt zugleich die Doppelfunktion der Rechtsbehelfsverfahren zum Ausdruck: Sie sind einerseits Verwaltungsverfahren i.S.d. VwVfG, andererseits aber auch Sachentscheidungsvoraussetzung für eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung. Es muss daher bis zur Entscheidung des Gerichts durchgeführt worden sein[16]. Wegen des letztlich verwaltungsprozessualen Schwerpunkts der Rechtsbehelfsverfahren werden sie deshalb üblicherweise in den Lehrbüchern zum Verwaltungsprozessrecht behandelt[17].

Ausbildungsliteratur:

Leist/Tams, Einführung in das Planfeststellungsrecht, JuS 2007, 1093; Pünder, Grundlagen des Verwaltungsverfahrensrechts, JuS 2011, 289; Siegel, Elektronisches Verwaltungshandeln, JURA 2020, 920.

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