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Оглавление§ 7 Handlungsmaßstäbe der Verwaltung
I. Bedeutung
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Bei ihrer Tätigkeit muss die öffentliche Verwaltung bestimmte Handlungsmaßstäbe einhalten. Diese sind typischerweise verfassungsrechtlich verankert. Da sie deshalb bereits in den Vorlesungen zum Verfassungsrecht behandelt worden sind, ist die nachfolgende Darstellung auf eine Zusammenfassung der zentralen Inhalte dieser Maßstäbe beschränkt. Einen besonders wichtigen Handlungsmaßstab bildet der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung: Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Verwaltung an Gesetz und Recht gebunden. Diese Aussage der Verfassung lässt sich in zwei für die Verwaltung relevante Aussagen ausdifferenzieren, zum einen in die Aussage vom Vorrang des Gesetzes, zum anderen in die Aussage vom Vorbehalt des Gesetzes (dazu u. II.). Darüber hinaus ist die öffentliche Verwaltung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden (zur Frage einer etwaigen Lockerung dieser Bindung bei privatrechtlichem Handeln der Verwaltung s.u. Rn 877 f). Eine spezifische Folge dieser Grundrechtsbindung ist die Pflicht zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (dazu u. III.). Weitere besonders bedeutsame Handlungsmaßstäbe bilden der allgemeine Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG (dazu u. IV.) sowie der Grundsatz des Vertrauensschutzes (dazu u. V.).
II. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
1. Vorrang des Gesetzes
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Der Vorrang des Gesetzes verbietet der Verwaltung, gegen ein Gesetz zu verstoßen. Er begründet damit ein Abweichungsverbot („kein Handeln gegen das Gesetz“[1]). Auch wenn oftmals formelle Gesetze im Mittelpunkt des Gesetzesvorrangs stehen, erstreckt er sich auf die gesamte Rechtsordnung[2]. Der Vorrang des Gesetzes findet seine konsequente Fortentwicklung in der Prüfung der Vereinbarkeit einer Rechtsnorm mit höherrangigem Recht, insbes. eines formellen Gesetzes mit der Verfassung sowie von Rechtsverordnungen und Satzungen mit einfachen Gesetzen (hierzu sowie zur sich anschließenden Frage der Verwerfungskompetenz s.o. Rn 93 ff).
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Wird der Grundsatz nicht beachtet und verstößt eine Verwaltungsmaßnahme gegen das Gesetz, so stellt sich die Anschlussfrage der Fehlerfolge. Hier sind drei Grundkategorien zu unterscheiden. Die intensivste Fehlerfolge wäre die Nichtigkeit der Maßnahme. Diese wäre dann unwirksam und müsste grundsätzlich nicht beseitigt werden. Eine im Verwaltungsrecht verbreitete Fehlerfolge ist die schlichte Rechtswidrigkeit. Die Maßnahme bleibt wirksam, ist jedoch rechtswidrig und muss beseitigt werden, damit sie ihre Wirksamkeit verliert. Schließlich kann ein Verstoß auch unbeachtlich sein. Die Unbeachtlichkeit kann hier bei besonders geringfügigen Verstößen von vornherein bestehen, sie kann aber auch durch Fristablauf oder durch die Heilung des Fehlers nachträglich eintreten. Diese drei Grundkategorien kommen bei den einzelnen Handlungsformen in unterschiedlicher Weise zur Anwendung und werden deshalb dort genauer behandelt (so etwa beim Verwaltungsakt in Rn 571 ff).
2. Vorbehalt des Gesetzes
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Der Vorbehalt des Gesetzes gibt eine Antwort auf die Frage, ob für eine bestimmte Verwaltungstätigkeit eine Ermächtigungsgrundlage in einem förmlichen Gesetz erforderlich ist[3]. Ist dies der Fall, so darf die Verwaltung nicht ohne eine solche handeln („kein Handeln ohne Gesetz“[4]). Praktisch geht es beim Vorbehalt des Gesetzes um die Frage, wie weit das Parlament durch seine Gesetzgebung Verwaltungshandeln steuern muss. Allgemein anerkannt ist, dass jedes belastende Verwaltungshandeln, also jeder Eingriff in Freiheit und Eigentum des Bürgers, einer Ermächtigungsgrundlage in Form einer materiellen Norm (nicht unbedingt eines Parlamentsgesetzes) bedarf.
Beispiele:
• | Anordnungen zum äußeren Erscheinungsbild bei der Bundeswehr („Haar- und Barterlass“)[5], |
• | Nachverfolgung personenbezogener Daten wegen Corona-Verdachts[6]. |
Streitbefangen ist immer noch die Antwort auf die Frage, ob die Leistungsverwaltung, also zB die Subventionsgewährung, eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage benötigt. Die hM lehnt hier das Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage ab. Die Verwaltung soll schon dann handeln dürfen, wenn der Haushaltsplan die zu verteilenden Mittel ausweist[7]. Jenseits dieser Konstellationen wird der Vorbehalt des Gesetzes durch die sog. Wesentlichkeitstheorie geprägt[8]. Sie hat zur Folge, dass alle Fragen, welche für die Verwirklichung von Grundrechten wesentlich oder für Staat und Gesellschaft von Bedeutung sind, vom parlamentarischen Gesetzgeber geregelt werden müssen[9]. Die Wesentlichkeitstheorie kommt insbes. im Bereich der Leistungsverwaltung zur Anwendung, steuert aber auch im Bereich der Eingriffsverwaltung die Regelungsdichte (zu den Arten der Verwaltung Rn 20 ff).
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Der Gesetzesvorbehalt betrifft heute alle denkbaren Verhältnisse des Bürgers zum Staat. Traditionell trennte die Lehre das sog. allgemeine Gewaltverhältnis – das ist dasjenige Verhältnis, in dem jeder Bürger zum Staat steht – vom besonderen Gewaltverhältnis – das ist dasjenige Verhältnis, in dem spezielle Bürger zum Staat stehen (zB Beamte, Soldaten, Richter, Schüler, Studierende, Strafgefangene). Das Verhältnis dieser Bürger zum Staat ist durch eine besondere „Nähe“ zum Staat gekennzeichnet (dazu auch Rn 259 f). Frühere Praxis war zB, das Schulverhältnis mit Hilfe von Verwaltungsvorschriften auszugestalten. Später vertrat ein Teil der Lehre die Ansicht, dieses besondere Gewaltverhältnis könne durch spezielle „Normen“, die sog. Sonderverordnungen, geregelt werden. Beide Lehren hat das BVerfG für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt und gefordert, auch die besonderen Gewaltverhältnisse müssten durch Gesetz geregelt werden[10]. Praktische Folge ist, dass das Schulwesen nunmehr weitgehend verrechtlicht ist. So finden sich etwa die Voraussetzungen für das „Sitzenbleiben“ in einem Parlamentsgesetz. Darüber hinaus müssen auch Vorgaben für die Haartracht von Soldaten in einem hinreichend bestimmten Gesetz geregelt sein[11].
III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
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Als weiterer für das Verwaltungshandeln relevanter Rechtsgrundsatz aus dem Bereich des Verfassungsrechts ist hervorzuheben das sog. Übermaßverbot bzw. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit[12]. Die Pflicht zur Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist eine spezifische Folge der Grundrechtsbindung nach Art. 1 Abs. 3 GG. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist im Rechtsstaatsprinzip verankert und beinhaltet, dass ein legitimer Zweck verfolgt werden muss, dass eine Maßnahme geeignet und erforderlich sein muss zur Erreichung dieses Zwecks und dass das eingesetzte Mittel zu dem mit ihm verfolgten Zweck nicht außer Verhältnis stehen darf (Grundsätze der Geeignetheit, Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne)[13].
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Einschlägig ist er vor allem im Bereich der Eingriffsverwaltung (zum Begriff s.o. Rn 20). Er kommt damit insbes. im Polizei- und Ordnungsrecht zur Anwendung[14]. Er bindet die öffentliche Verwaltung aber umfassend und ist daher nicht nur bei Handlungsspielräumen der Verwaltung wie im Polizei- und Ordnungsrecht einschlägig, sondern auch bei sog. gebundenen Entscheidungen, bei denen der Verwaltung keine Handlungsspielräume eingeräumt werden[15]. Unverhältnismäßig ist dann bei genauer Betrachtung aber nicht der Vollzugsakt, sondern das diesen anordnende Gesetz. Über den Bereich der Eingriffsverwaltung hinaus kommt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz schließlich auch im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes zur Anwendung, insbes. bei personenbezogenen Differenzierungen[16].
IV. Allgemeiner Gleichheitssatz
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Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt das an die Verwaltung gerichtete Verbot, im Bereich der Ermessensverwaltung[17] von einer geübten Verwaltungspraxis ohne sachlichen Grund abzuweichen. Diese „Selbstbindung der Verwaltung“ bewirkt eine Gleichbehandlung der Bürger, die sich mit dem gleichen Anliegen an die Verwaltung wenden. Bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung kommt bei personenbezogenen Differenzierungen die (neue) Verhältnismäßigkeitsformel zur Anwendung, bei sachbezogenen Differenzierungen hingegen die (klassische) Willkürformel[18]. Wegen der Schwierigkeiten bei der Abgrenzung tendiert das BVerfG aber inzwischen zu einem stufenlosen Übergang zwischen der gelockerten Prüfung des klassischen Willkürmaßstabs bis hin zu einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung[19].
V. Vertrauensschutz
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Schließlich ist auch der Grundsatz des Vertrauensschutzes ein häufig relevanter Handlungsmaßstab, der ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip verankert ist[20]. Er entfaltet zwar gerade auch im Bereich der Gesetzgebung seine Bedeutung[21], findet aber auch im Verwaltungsrecht prüfungsrelevante Anwendungsfelder. Dies gilt insbes., aber nicht nur, für die Aufhebung begünstigender Verwaltungsakte (dazu ausf. Rn 612 ff)[22].
Ausbildungsliteratur:
Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, 945; Detterbeck, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, JURA 2002, 235; Erichsen, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, JURA 1995, 550; Klatt/Meister, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, JuS 2014, 193; Kluckert, Die Gewichtung von öffentlichen Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, JuS 2015, 116; Kraus, „Was lange währt, ist doch nicht gut?“, JA 2019, 44 (Fortgeschrittenenklausur u.a. zum Vertrauensschutz); Muckel, Unterschiedliche Vorgaben zur Haartracht für Frauen und Männer in der Bundeswehr, JA 2019, 435 (zum Vorbehalt des Gesetzes); Voßkuhle, Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, JuS 2007, 118; ders./Kaufhold, Vertrauensschutz, JuS 2011, 794.