Читать книгу Kognitive Psychologie - Tilo Strobach - Страница 10
1.2.2 Kognitionspsychologische Theorien
ОглавлениеWelchen Beitrag können empirische Befunde aus Experimenten (z. B. mit lexikalischer Entscheidungsaufgabe) für Theorien liefern? Dazu werden die Theorien in verschiedene Kategorien unterteilt (Wentura & Frings, 2013): Theorien kleiner Reichweite, Theorien mittlerer Reichweite und Theorien großer Reichweite.
Theorien kleiner Reichweite sind paradigmenorientierte Theorien, welche die Effekte und Ergebnisse einzelner Experimente erklären können. Im Fall der lexikalischen Entscheidungsaufgabe können sie Ergebnisse semantischen Primings im Kontext dieser Aufgabe erklären; Wörter nach Primes mit einer inhaltlichen Beziehung sind durch eine höhere Aktivität leichter zugänglich und werden deshalb schneller als Wörter erkannt. Man könnte den Effekt des schnelleren Erkennens von Wörtern nach Primes mit einer inhaltlichen Beziehung auch anders erklären. Forschung zu diesen Alternativerklärungen führt mitunter zu Theorien (Wie ist der Primingeffekt zu erklären?), die sehr viel stärker auf die Erklärung des beobachteten Effekts fokussieren als auf die übergeordnete Frage (Wie ist das semantische Gedächtnis aufgebaut und welche Eigenschaften besitzt es?). In einer Alternativerklärung der Ergebnisse der lexikalischen Entscheidungsaufgabe wird Juli schneller nach Juni als nach Wald erkannt, da Juni und Juli sich nicht nur inhaltlich ähnlich sind, sondern auch optisch (d. h. in ihrer oberflächlichen Beschaffenheit und den verwendeten Buchstaben). Das legt eher eine wahrnehmungspsychologische Erklärung nahe und erklärt keine Eigenschaften des semantischen Gedächtnisses. Bei der Forschung zu paradigmenorientierten Theorien müssen nun Situationen geschaffen werden, in denen Primes mit und ohne inhaltliche Beziehung zum Zielwort in gleichem Ausmaß eine oberflächliche Ähnlichkeit zum Zielwort haben. Im Fall von Juli könnten nun die Primes Monat und Morast dazu dienen, die Alternativerklärung zu untersuchen. Es ist zu erwarten, dass Juli auch schneller erkannt wird, wenn das oberflächlich unähnliche Wort Monat als Prime präsentiert wird im Vergleich zum Morast. Dadurch können wahrnehmungspsychologische Effekte als alleinige Ursache für semantische Primingeffekte ausgeschlossen werden.
Ein bedeutsamer Teil der in Fachzeitschriften veröffentlichten Theorien haben die Überprüfung paradigmenorientierter Theorien zum Ziel. Vielleicht entsteht bei Außenstehenden der Eindruck, dass diese Art der Psychologieforschung durch marginale Änderungen im Versuchsaufbau lediglich Experimentaleffekte untersucht, die es ohne kognitionspsychologische Forschung nicht geben würde. Diese Kritik wäre dann berechtigt, wenn die gesamte kognitionspsychologische Forschungsarbeit diesem Ziel folgen würde. Das ist zum Glück nicht der Fall. Neben Theorien zu übergreifenden Fragen richtet sich nur ein Teil der Forschung auf paradigmenorientierte Theorien. Diese Forschung hat definitiv ihre Berechtigung, da sie akribisch überprüft, ob sich bestimmte Annahmen, die häufig implizit bei der Etablierung eines Paradigmas getroffen wurden, halten lassen. Erst dadurch kann festgestellt werden, ob übergreifende Theorien eine Existenzberechtigung haben.
Theorien mittlerer Reichweite haben uns bereits im Kontext der lexikalischen Entscheidungsaufgabe und der Eigenschaften von Begriffsrepräsentationen im semantischen Gedächtnis beschäftigt: Begriffsrepräsentationen im semantischen Gedächtnis sind nicht isoliert, sondern miteinander vernetzt. Diese funktionsorientierten Theorien treffen also generelle Aussagen zu relativ gut umschlossenen und abgegrenzten kognitiven Komponenten oder Phänomenen (z. B. das semantische Gedächtnis). Im Kontext von Theorien mittlerer Reichweite wird deshalb auch vieles ausgespart. Ausgespart werden beispielsweise die zugrundeliegenden Wahrnehmungsprozesse, mit denen Wörter aufgenommen werden, oder die Entstehung dieser Vernetzung der Repräsentationen. Gute Theorien mittlerer Reichweite führen zu testbaren Hypothesen. Eine Annahme der vernetzten Repräsentation von Begriffen im semantischen Gedächtnis ist zum Beispiel, dass Begriffe mit einer unmittelbaren Beziehung zu einer höheren Verfügbarkeit von Zielwörtern führt (z. B. Juni → Juli), als Begriffe, die lediglich indirekt miteinander verbunden sind (z. B. Sommeranfang (→ Juni) → Juli). Häufig beinhalten Theorien mittlerer Reichweite eine Strukturierung eines bestimmten Bereichs in einzelne Teilbereiche. Ein typisches Beispiel ist das Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley (1992, im Detail Kap. 5.4.1) oder das Gesichtserkennungsmodell von Bruce und Young (1986, Abb. 1.2; A). Zur Illustration dieser Strukturierungen werden oft Fließdiagramme verwendet, wobei die Kästchen meist Teilbereiche sind und die Pfeile Verarbeitungsschritte repräsentieren. Diese Illustrationen sind oft ein didaktisches Mittel, um Aussagen besser zu erläutern, und sie führen mitnichten zur Vereinfachung solcher Theorien.
Theorien großer Reichweite gleichen kognitiven Architekturen, die das Gesamtbild des kognitiven Systems abbilden und Aussagen zu jedem Phänomenbereich machen. Nur wenige Forscher haben sich dieser Art von Theorien angenommen. Deshalb ist ihre Zahl viel geringer als die Zahl der Theorien kleiner und mittlerer Reichweite. Bekannte Theorien großer Reichweite sind die adaptive control of thought (ACT)- Theorie von John R. Anderson (Anderson et al., 2004) oder die Modelle mit parallel distributed processing (PDP) von Rumelhart und McClelland (McClelland, Rumelhart & Hinton, 1986). Sie treffen Aussagen zu allen wesentlichen kognitionspsychologischen Bereichen (Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Entscheidung etc.). In diesen kognitiven Architekturen wird eine Grundstruktur von Modulen beziehungswiese neuronalen Netzwerken ( Abb. 1.2; B) mit entsprechenden Eigenschaften angenommen, die ausreichen soll, möglichst alle Arten von kognitiven Prozessen zu modellieren.
Abb. 1.2: (A) Darstellung einer Theorie mittlerer Reichweite zur Gesichtserkennung (nach Bruce & Young, 1986). (B) Darstellung einer Theorie großer Reichweite: PDP-Modell mit neuronalem Netzwerk zur Gesichtserkennung (nach Burton & Bruce, 1992)