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1.4 Geschichte der Kognitiven Psychologie

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Die Psychologie im Allgemeinen, aber auch die Kognitive Psychologie im Speziellen, so wie wir sie heute kennen, ist als Naturwissenschaft noch relativ jung; Disziplinen wie Biologie, Physik oder Chemie können im Vergleich dazu auf eine lange naturwissenschaftliche Geschichte zurückblicken. Das ist erstaunlich, da sich das Interesse für Fragen der menschlichen Psyche bis zu den griechischen Philosophen wie Platon zurückverfolgen lässt. Bereits diese antiken Philosophen nahmen die wissenschaftliche Induktion vorweg, die noch heute ein wesentlicher Bestandteil der kognitionspsychologischen Theorienbildung ist. Die Idee ist, dass die Beobachtung von Alltagsgegenständen und -ereignissen zu Idealisierungen und Generalisierungen als Basis der kognitiven Theorien dienen; diese Theorien können dann zur Erklärung der Beobachtung und zur Modellierung des Alltags herangezogen werden (Cottingham, 1987). Eine Erklärung für die relativ lange philosophische Auseinandersetzung und späte naturwissenschaftliche Entstehung der Kognitiven Psychologie und der Psychologie generell könnte auch sein, dass es bis in das 19. Jahrhundert undenkbar war, psychische Prozesse des Menschen einer naturwissenschaftlichen Analyse zu unterziehen. Ein Grund für diese Einstellung könnte die egozentrische, mystische und teilweise verworrene Einstellung gegenüber dem Menschen und seinem Verstand gewesen sein, die sich erst damals langsam auflöste (Anderson, 2013). Die britischen Empiristen um Francis Bacon (1561 – 1626) und John Locke (1632 – 1704) haben mit ihren Ideen zu dieser Auflösung beigetragen.

Die naturwissenschaftlich orientierte Kognitive Psychologie begann sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu etablieren. Die ersten Schritte in dieser Entstehung ging Herrmann Ebbinghaus (1885) mit seinen Untersuchungen zum Gedächtnis; inspiriert wurde er von Gustav Theodor Fechner (1860) und Hermann von Helmholtz (1885/1962). Ebbinghaus legte in seinen Untersuchungen Listen mit zu lernenden Silben vor. Nach Ende der Lernphase untersuchte er in der Ersparnismethode die eingesparte Zeit zum Wiedererlernen der Silben nach unterschiedlich langen Pausen, das sind die sogenannten Behaltensphasen (Details dazu Kap. 5.1). Zwar war Ebbinghaus meist selbst die einzige Versuchsperson, deshalb kann die Gültigkeit seiner Aussagen infrage gestellt werden. Allerdings ist er der erste, der kognitive Phänomene (z. B. das Gedächtnis) systematischen Testungen unterzog.

Ein zweiter Schritt in der Entstehung der Kognitiven Psychologie ist ihre Institutionalisierung. 1879 eröffnete Wilhelm Wundt das erste psychologische Experimentallabor an der Universität Leipzig. Wundt und seine Schüler wählten zur Untersuchung des Erlebens und Verhaltens die Methode der Introspektion. Bei dieser Methode berichten geschulte Beobachter unter sorgfältig kontrollierten Bedingungen über ihre eigenen »Bewusstseinsinhalte«. Die Berichte erfolgten unter der Annahme, dass mentale Prozesse der Selbstbeobachtung zugänglich sind. Diese Annahme geht auf die britischen Empiristen zurück. Wundt und seine Kollegen waren sich sicher, dass es durch intensive Selbstbeobachtung gelingt, die elementare Erfahrung zu bestimmen, aus der sich Erleben und Verhalten zusammensetzt. Die Theorie des menschlichen Erlebens und Verhaltens müsste deshalb lediglich die Inhalte introspektiver Erfahrungsberichte erklären. Auch ohne besondere Schulung kann simuliert werden, wie ein Introspektionsexperiment ablief. Den Versuchspersonen wurde ein Wort präsentiert (z. B. Buch) und ihre Aufgabe war es, in einer bestimmten Zeit frei zu assoziieren, d. h. alles zu sagen, was ihnen zum Wort einfiel (Mayer & Orth, 1901). Im Anschluss berichteten die Versuchspersonen über ihre Bewusstseinserfahrungen vom Moment der Wortpräsentation bis zum Wiedergeben ihrer Assoziationen. Es zeigt sich allerdings in diesem und in anderen Experimenten mit der Methode der Introspektion, dass viele Berichte von eher unbeschreibbaren Erfahrungen handelten. Was Wissenschaftler als Prozesse des Erlebens und Verhaltens annahmen, unterschied sich also stark von dem, was die Versuchspersonen berichteten. Erklärungen und Hinweise bezüglich der Theorien, die den Versuchspersonen im Vorfeld der Untersuchung gegeben wurden, haben in ihren Berichten dazu geführt, dass sie beschrieben, was von ihnen entsprechend erwartet wurde. Und diese Erwartungen unterschieden sich zwischen verschiedenen Forschern und verschiedenen Laboren.

Ein weiteres Problem der Introspektion war, dass die Prozesse als Reaktion auf eine Reizpräsentation sehr einfach sein können. Sie können deshalb extrem schnell ablaufen und kurzlebig sein und somit nicht auf einem Niveau ablaufen, das für den bewussten Zugriff durch Introspektion zugänglich ist. Nehmen wir als illustratives Beispiel ein Experiment, in dem ein Licht präsentiert wird und die Versuchspersonen möglichst schnell eine Taste betätigen müssen, wenn sie dieses Licht detektieren. In jungen Erwachsenen werden in Computerexperimenten dieser Art Reaktionszeiten von etwa 200 ms gemessen. Die ersten etwa 100 ms werden für die sensorische Übertragung des durch den visuellen Lichtreiz ausgelösten Signals von der Retina in die verschiedenen Gehirnareale benötigt. Die verbleibende Zeit wird für die Aktivierung eines motorischen Programms benötigt, d. h. für die Übertragung dieses Programms zu den Effektoren (z. B. den Fingern) und für die Ausführung des Programms. Die meisten sensorischen und motorischen Übertragungsprozesse in diesem Experiment ermöglichen keinen bewussten Zugriff, der eine Introspektion erlaubt. Diese Argumente lösten eine Debatte um die Gültigkeit der Befunde mit der Methode der Introspektion aus und führten zu einer Ablösung dieser Methode.

Dann, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, entwickelte sich die Psychologie vornehmlich in den USA (sowie durch den russischen Forscher Ivan P. Pawlow) ziemlich »kognitionslos«. Die Strömung des Behaviorismus reagierte auf die Nachteile der Introspektionsmethode und die Schwierigkeiten im Zugriff auf mentale Prozesse, indem sie diese Prozesse als Gegenstand der psychologischen Forschung ausklammerte (Watson, 1913). Nach Ansicht des Behaviorismus sollte sich Psychologie ausschließlich mit von außen beobachtbaren objektiven Daten befassen, ohne dabei schlecht zu erfassende und zu definierende Konzepte, wie Gedächtnis oder Aufmerksamkeit, zu verwenden. Diese Phase wird deshalb als cognitive winter bezeichnet. Tiere ersetzten in den Laboren den Menschen als Gegenstand der Untersuchungen und die Forschung wurde in dieser Zeit vornehmlich auf die Bereiche Lernen und Motivation ausgerichtet. Diese Bereiche sind eher behavioristisch als kognitiv geprägt. In diesem Buch wird auf diese Bereiche deshalb nur begrenzt eingegangen. Neben der auf wenige Bereiche sehr eingegrenzten Forschungstätigkeit und dem Ignorieren des für die Psychologie Wesentlichen, nämlich die mentalen Prozesse des Erlebens und Verhaltens, ist theoretisch nur wenig vom Behaviorismus bezüglich der Kognitiven Psychologie übriggeblieben; auch das strikte »anti-kognitive« Vorgehen als Reaktion auf die Introspektion ist nicht mehr vollständig nachvollziehbar (Anderson, 2013). Was bis heute vom Behaviorismus erhalten ist, ist vielleicht seine methodische Vorgehensweise mit systematischen und strikten Verfahren und Prinzipien bei experimentellen Untersuchungen, die prinzipiell in kognitionspsychologischer Forschung angewendet wird.

Allerdings herrschte der cognitive winter in Europa nicht flächendeckend, sondern mancherorts war Kognitive Psychologie ein reges Forschungsthema: Der Russe Alexander Luria untersuchte Störungen im Verständnis und der Produktion von Sprache (Aphasien), in der Schweiz formulierte Jean Piaget seine generelle Theorie der kognitiven Entwicklung (z. B. die Entwicklung des Mengen- oder Zahlbegriffs im Kindesalter), in Deutschland beschäftigte sich die Gestaltpsychologie mit Wahrnehmung ( Kap. 2.2.2) sowie Problemlösung und speziell die Würzburger Schule untersuchte kognitive Prozesse, die dem Denken zugrunde liegen. Leider sind viele der letztgenannten Forschungsaktivitäten durch den Nationalsozialismus verloren gegangen, was beweist, dass Entwicklungen in der Kognitiven Psychologie nicht allein durch wissenschaftliche Kriterien bestimmt werden.

Die Kognitive Psychologie in ihrer heutigen Form begann sich zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu entwickeln. Drei Faktoren sind für diese neuere Entwicklung verantwortlich:

1. Vor allem während des Zweiten Weltkrieges war es notwendig, Erleben und Verhalten im Umgang mit technisch komplexen Systemen zu erklären und vorherzusagen. Man war bestrebt, Piloten und Flugzeuge effizienter einsetzen zu können und Flugzeugabstürze durch menschliche Fehler zu vermeiden. In diesem Fokus entstanden beispielsweise Informationsverarbeitungstheorien der Aufmerksamkeit durch Donald Broadbent ( Kap. 3.1.2). Solche Informationsverarbeitungstheorien haben das Ziel, kognitive Prozesse in eine Reihe von Einzelschritten zu zerlegen und sie damit zu analysieren; der Behaviorismus bot für derartige praxisbezogene Fragen keine Hilfe an. Dieser Ansatz der Informationsverarbeitungstheorien wurde nach dem Krieg von kognitionspsychologischen Laboren übernommen und ist bis heute vorherrschend in der Kognitiven Psychologie.

2. Die Auseinandersetzung mit »kognitiven« Themen bestimmte die Entwicklung der Kognitiven Psychologie. Das bedeutet unter anderem, dass die Anwendung von Fortschritten in den Computerwissenschaften um Allen Newell und Herbert Simon (Newell & Simon, 1972) auf Künstliche Intelligenz dazu geführt hat, die Entwicklung dieser Intelligenz voranzubringen. Fortschritte in der Computertechnik ermöglichen es, menschliche Kognition zu simulieren ( Kap. 1.1). Die heutige Laborforschung und das Erstellen systematischer Untersuchungsbedingungen mit den daraus resultierenden Ergebnissen sind nicht ohne diese Technik denkbar ( Kap. 10). Des Weiteren führte die Linguistik und die kognitive Sprachwissenschaft um Noam Chomsky (Chomsky, 1959) die Erforschung der Sprache als Thema in die Kognitive Psychologie ein. Chomsky erkannte, dass komplexe Phänomene, wie Sprachverständnis und -produktion, nicht durch behavioristische Ansätze zu erklären waren.

3. Die neuere Entwicklung der Kognitiven Psychologie ist institutionell. Dieser Faktor lässt sich konkret an das Jahr 1956 und speziell an zwei Konferenzen sowie verschiedenen Publikationen festmachen (Gobet, Chassy & Bilalic, 2011). Die zwei Konferenzen »Symposium of Information Theory« am Massachusetts Institute of Technology und »Dartmouth Conference« beschäftigten sich mit klassischen kognitiven Themen wie Aufmerksamkeit und Gedächtnis. Im Verlauf dieser Konferenzen wurde klar, dass der Behaviorismus für diese wie auch andere kognitive Themen keine ausreichenden Erklärungsansätze bot. Außerdem wurden im Jahr 1956 zwei der wohl einflussreichsten frühen kognitiven Publikationen veröffentlicht. Bruner, Goodnow und Austin (1956) haben systematisch die Entstehung von Konzepten im Gedächtnis untersucht. Schon die Verwendung von Begriffen wie Konzepte und Gedächtnis war im Behaviorismus nicht zulässig. George Miller (1956) unternahm außerdem den Versuch, die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses und eine Einheit für die Messung dieser Kapazität zu bestimmen ( Kap. 5.3).

Heute hat sich die Kognitive Psychologie zu einer sehr dynamischen, aktiven und internationalen Disziplin entwickelt. Ihre unterschiedlichen Fokusse haben sich durch verschiedene Konferenzen und Fachjournale (z. B. Memory & Cognition; Attention, Perception, & Psychophysics) institutionalisiert. Die Kognitive Psychologie ist heute vor allem durch den spezifischen kognitiven Bereich gekennzeichnet, der untersucht wird (z. B. Wahrnehmungspsychologie, Aufmerksamkeitspsychologie).

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