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2.2.2 Gestaltpsychologie

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Die Gestaltpsychologie begründet sich als Gegenströmung zur Elementarpsychologie, zu der auch die Psychophysik ( Kap. 2.2.1) gezählt werden kann. Die Elementarpsychologie geht von der Annahme aus, dass sich Wahrnehmung in kleinste elementare Empfindungen zerlegen lässt. Allerdings besteht Wahrnehmung in unserer realweltlichen Umwelt vielmehr aus dem Zusammenspiel und der Wechselwirkung von verschiedenen elementaren Einzelempfindungen. Diese Ansicht von Wahrnehmung lässt sich treffend mit der Annahme ausdrücken, dass Wahrnehmung mehr als die Summe seiner einzelnen Teile ist. Diese Annahme betont, dass einzelne Empfindungen in verschiedener Weise miteinander interagieren können, deshalb beschreibt die Gestaltpsychologie vor allem die Rolle von Ganzheiten (d. h. Gestalten) in der Wahrnehmung. Ein Verständnis der Gestalten (und damit ein Verständnis von komplexen Reizkonfigurationen in unserer realweltlichen Umwelt) ist durch die bloße Analyse der Einzelempfindungen nicht zu erreichen. Ein populäres Beispiel für Gestalten ist das Phänomen der Scheinbewegung (Wertheimer, 1912): Werden zwei stationäre Lichtpunkte alternierend ein- und ausgeschaltet, dann entsteht der Eindruck einer Bewegung. Diese Bewegungsempfindung basiert offensichtlich nicht auf Empfindungen von Einzelteilen, da es kein Reiz gibt, der sich zwischen den stationären räumlichen Reizpositionen bewegt. Vielmehr wird eine Bewegungsempfindung hinzugefügt, ohne dass es in den einzelnen Teilen eine äquivalente Entsprechung gibt. Ein ähnliches Phänomen ist das der Scheinkontur, es hat ebenfalls keine Entsprechung in den Einzelempfindungen. In Abbildung 2.8 nehmen wir ein sogenanntes Kanisza-Viereck wahr, obwohl die Reizanordnung kein Viereck enthält – ein Befund, der sogar eine neuropsychologische Entsprechung als Aktivierung im Hinterhauptlappen hat (Maertens & Pollmann, 2005; Abb. 2.5). In einem Extrembeispiel können alle Einzelempfindungen ausgewechselt werden, ohne dass die Ganzheit ihre Gestalt verliert: Werden alle Töne einer Melodie transponiert (d. h. alle Töne einer Melodie werden um denselben Abstand erhöht oder erniedrigt), ist die Melodie trotz der Veränderung noch mühelos zu erkennen.


Abb. 2.5: Beispiel einer Scheinkontur: Man sieht ein (Kanisza-)Viereck, das in den Einzelempfindungen keine Entsprechung hat.

Die Gestaltpsychologie beschränkt sich nicht nur auf die Kritik der Elementarpsychologie, sondern die verschiedenen gestaltpsychologischen Richtungen und Schulen (z. B. Frankfurter Schule um Max Wertheimer oder die Berliner Schule um Kurt Koffka, Kurt Lewin und Wolfgang Köhler) gingen den Gesetzen nach, wie Wahrnehmung organisiert ist. Das zentrale Gesetz der Gestaltpsychologie ist die Wahrnehmungsorganisation nach dem Prägnanzprinzip. Demnach setzt sich von mehreren Möglichkeiten der Wahrnehmungsorganisation stets die Ordnung durch, welche die einfachste, einheitlichste, stabilste oder auch »beste« Gestalt ergibt (deshalb auch als »Prinzip der guten Gestalt« bezeichnet). Obwohl sehr vage formuliert, ergeben sich aus diesem Prinzip eine Reihe von Gesetzen, die spezifische Realisierungen des Prägnanzprinzips sind. Obwohl es Unterschiede in diesen spezifischen Realisierungen und ihrer Komplexität über die verschiedenen gestaltpsychologischen Richtungen und Schulen hinweg gibt, entstand in der Vergangenheit dennoch ein relativ einheitlicher Kanon von Gestaltgesetzen. Die populärsten sollen im Folgenden genannt werden.

Das Gesetzt der Nähe besagt, dass Objekte zueinander gruppiert werden, die nahe beieinander sind und sich von anderen Objekten separieren lassen ( Abb. 2.6; A). Ein Beispiel dafür sind nahe beieinander befindliche Vögel, die zu einem Vogelschwarm gruppiert und geordnet werden. Das Gesetz der Ähnlichkeit besagt, dass äußerlich ähnliche Objekte zueinander gruppiert werden. Zum Beispiel werden die Objekte in Abbildung 2.6 B eher in Spalten als in Zeilen gruppiert, da sich die Objekte innerhalb der Spalten ähnlicher sind als innerhalb der Zeilen. In unserem Eingangsbeispiel, dem Stadionbesuch, wird eine realweltliche Anwendung des Gesetzes der Ähnlichkeit demonstriert: Herr F. erkennt die Gruppe der Fans des gegnerischen Teams anhand ähnlicher Farben, Formen und Symbole auf Schals und Trikots. Das Gesetz der Geschlossenheit besagt, dass die Wahrnehmung dazu tendiert, unvollständige Objekte zu ergänzen. Obwohl es in Abbildung 2.6 C nur Anordnungen einzelner elementarer Formen (z. B. rechte Winkel, unvollständige Halbkreise) gibt, werden diese Formen zu einem Viereck oder einem Kreis ergänzt. Das Gesetz der Symmetrie besagt, dass diejenigen Objekte gruppiert werden, die um eine symmetrische Achse oder ein Zentrum organisiert werden können ( Abb. 2.6 D). Das Gesetz der Fortsetzung (auch Gesetz der Kontinuität) besagt, dass die Wahrnehmung dazu tendiert, Objekte zu einem fortlaufenden Muster zu vervollständigen. Abbildung 2.6 E zeigt ein Beispiel: Obwohl die dünnen Linien hinter dem breiten zentralen Balken nicht zueinander passen (d. h. die Fortsetzungen der Linien hinter dem Balken sind leicht seitlich versetzt), werden sie dennoch als zusammengehörig wahrgenommen. Abschließend besagt das Gesetz zur Figur-Grund-Trennung, dass die globale Gesamtstruktur auf die lokale Verteilung der Figuren und des Hintergrunds einwirkt. Die Wahrnehmung produziert also, dass sich bestimmte Flächen zu einer Figur oder einem Objekt und andere Flächen zu einem Hintergrund gruppieren. Abbildung 2.6 F zeigt ein entsprechendes Beispiel mit Figuren (Fläche 1 und 2) und Hintergrund (Fläche 3). Faktoren, die die Zuweisung einer Fläche zu Figuren begünstigen, sind eine geschlossene Kontur (z. B. die Flächen 1 und 2), eine kleine Fläche (z. B. die Flächen 1 und 2), Symmetrie (z. B. Fläche 2) oder Parallelität (z. B. Fläche 2). Bei der Zuweisung von Flächen zu Figuren können also mehrere Faktoren gleichzeitig wirken.

Insgesamt hat die Gestaltpsychologie sehr bedeutsame und gut nachvollziehbare Gestaltgesetze formuliert und beschrieben, die unsere Wahrnehmung organisieren. Allerdings bietet sie kaum eine Erklärung für die Existenz und Anwendung dieser Gesetze an. Man hat es versäumt, Kriterien zu determinieren, wann und unter welchen Bedingungen eine gute Gestalt vorliegt und ein spezifisches Gesetz angewendet wird. Beispielsweise haben wir gesagt, dass Fans einer Fußballmannschaft in ihrem Stadionblock anhand ihrer Ähnlichkeit erkannt werden. Allerdings


Abb. 2.6: Konkrete Realisierungen von Gestaltgesetzen nach dem Prägnanzprinzip. (A) Gesetz der Nähe, (B) Gesetz der Ähnlichkeit, (C) Gesetz der Geschlossenheit, (D) Gesetz der Symmetrie, (E) Gesetz der Fortsetzung, (F) Figur-Grund-Trennung

spielt natürlich auch das Gesetz der Nähe eine Rolle, da die Fans nahe beieinander lokalisiert sind. Es bleibt hier also unklar, welches Gesetz zu welchen Anteilen angewendet wird und es ist lediglich eine nachfolgende subjektive Analyse des Wahrnehmungsvorganges möglich. Der Vorwurf scheint also zumindest teilweise berechtigt zu sein, dass die Gestaltpsychologie eher beschreibend agiert und weniger die zugrundeliegenden kognitiven Mechanismen und somit die visuelle Wahrnehmung erklärt.

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