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Humanistische Moral

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Neben einem ganzen Set an Überzeugungen über Rationalität haben die meisten säkularen Menschen heute auch ein Set an ethischen Überzeugungen über das menschliche Leben. Viele würden sich als „liberale Humanisten“ beschreiben, die an Wissenschaft und Vernunft, an Fortschritt und das Gute im Menschen, und an Menschenrechte, Gleichheit und Freiheit jedes einzelnen Menschen glauben.31 Säkularismus ist gekennzeichnet von dem Anliegen, „aktive Verantwortung für die Verbesserung der Welt zu übernehmen … damit es anderen Menschen besser geht, selbst Fremden jenseits unserer Grenzen“32. Den Einfluss von Religion in der Welt zurückzudrängen soll uns dabei helfen, diese Werte zu verwirklichen.

Doch woher kommen diese Werte? Nicht nur, dass keiner dieser humanistischen moralischen Maßstäbe empirisch hergeleitet werden kann; sie folgen auch nicht logisch aus einer materialistischen Weltanschauung. Dieses Problem scheint für viele unsichtbar zu sein. So schreibt z. B. ein Kommentator über einen Artikel in der New York Times:

Als das Hubble-Weltraumteleskop eine Woche lang auf ein schwarzes Loch im Himmel in der Größe eines Radiergummis gerichtet war, fand es 30.000 Galaxien, die über 13 Milliarden Jahre alt und von Milliarden von Sternen und noch mehr vermuteten Planeten umgeben sind. Wie wichtig sind Sie also? … Sie sind keine einzigartige Schneeflocke, Sie sind nicht besonders. Sie sind einfach ein weiteres Stück vergänglicher Materie auf dem Komposthaufen dieser Welt. Nichts von dem zählt, was Sie sind und in Ihrer kurzen Zeit hier tun werden. Alles andere ist Eitelkeit. Also feiern Sie das Leben jeden Moment, staunen Sie über seine Wunder und lieben Sie rückhaltlos!33

Der erste Teil dieses Kommentars zeigt eine rückhaltlose materialistische Weltsicht. Wir sind bloße Materie, keine Seele. Wir wurden nicht für ein bestimmtes Ziel geschaffen. Es gibt kein Leben nach dem Tod. Die Erde wird irgendwann beim Tod der Sonne verbrennen. Am Ende wird es keinerlei Unterschied machen, ob Sie freundlich oder brutal waren. Doch dann kommt das „Also“, das eine logische Folgerung markiert und uns sagt, dass wir deshalb in Liebe das Leben feiern sollen.

Aber wenn wir einfach nur ein vergängliches Stückchen Materie in einem vergehenden Universum sind und keinerlei Bedeutung haben, wieso folgt daraus, dass wir anderen in Liebe begegnen sollen? Warum sollten wir nicht so selbstbezogen leben, wie es eben geht? Wie geht der Glaube an individuelle Freiheit, Menschenrechte und gleiche Würde mit der Idee zusammen, dass die Menschheit, wie sie heute ist, durch den Prozess des survival of the fittest (Überleben des Stärkeren) entstanden ist? Das passt wirklich nicht zusammen. Der russische Philosoph Wladimir Solowjow fasst das ethische Denken des säkularen Humanismus sarkastisch zusammen: „Der Mensch stammt vom Affen ab, also müssen wir einander lieben.“34 Der zweite Satzteil folgt nicht aus dem ersten. Wenn es früher natürlich war, dass der Starke den Schwachen frisst, warum darf man es heute nicht mehr?

Damit will ich natürlich nicht sagen, dass wir einander nicht lieben sollen, sondern: Geht man von einer säkularen Weltanschauung aus, sind Liebe oder soziale Gerechtigkeit keine logischere Folgerung als Hass oder Zerstörung. Streng wissenschaftlicher Materialismus und liberaler Humanismus passen eigentlich nicht zusammen, sondern widersprechen sich. Viele würden dies als eine zutiefst inkohärente Weltanschauung bezeichnen. Wenn die Werte des säkularen Humanismus also nicht aus einem materialistischen Universum abgeleitet werden können, woher kommen sie dann?

Die Antwort lautet, dass sie eine Geschichte haben, eine eigene „Genealogie“. Der französische Philosoph Jacques Derrida schreibt: „Heute ist der Grundstein internationalen Rechts die Würde des Menschen … die Unverletzbarkeit des Menschen als unser Nächster … von Gott geschaffen oder vom gottgeschaffenen Menschen … In diesem Sinne ist das Konzept von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein christlicher Gedanke und ich denke, dass es so etwas heute im Recht nicht geben würde ohne das christliche Erbe, das abrahamitische Erbe, das biblische Erbe.“35 Ich habe schon auf Jürgen Habermas verwiesen, der den wachsenden Konsens vieler Forscher darüber beschreibt, dass die modernen Ideale von Freiheit, Gewissen, Menschenrechten und Demokratie aus der biblischen Lehre von Gerechtigkeit und Liebe entstanden sind und die säkulare Gesellschaft keine gute Alternative gefunden hat, diese Ideale zu begründen.36 Derrida und Habermas erkennen an, dass die moralischen Werte des humanistischen Säkularismus kein Ergebnis wissenschaftlichen Denkens sind, sondern aus früheren Zeiten stammen und eine theologische Geschichte haben. Menschen in der Moderne behalten sie aus reinem Glauben bei.

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