Читать книгу Glauben wozu? - Timothy Keller - Страница 28
Kapitel 3 Ein Sinn im Leben, den Leid einem nicht nehmen kann
ОглавлениеEs gibt vielleicht keine fundamentalere Frage als die nach dem Sinn des Lebens. Doch viele Denker halten diese Frage für falsch gestellt. Schließlich sprechen wir auch nicht über den Sinn einer Höhle oder ob ein Schneesturm wahr oder falsch ist. Wir können den atemberaubenden Blick auf das Meer lieben, aber wir erwarten vom Meer keine Gegenliebe. „Sinn“ sei keine Eigenschaft von Dingen an sich, sondern einfach das, was wir Menschen gerade empfinden. Nach dieser Sicht kann jeder von uns entscheiden, ob ein bestimmtes Objekt für uns Bedeutung und damit einen Sinn hat, doch nach dem Sinn des Lebens an sich zu fragen sei sinnlos. Leben kann keinen Sinn an sich haben.
Der Philosoph Thomas Nagel stellt am Ende seines Buchs What Does It All Mean? („Was heißt das alles?“) die Vermutung auf, dass die große Sinnfrage daher kommt, dass wir uns zu wichtig nehmen.1 Er schlägt vor: „Das Grab ist das einzige Ziel des Lebens, also ist es vielleicht lächerlich, uns so ernst zu nehmen.“ Es müsste reichen, das Leben so zu nehmen, wie es ist, und so gut zu genießen wie möglich. Doch viele wollen mehr und suchen nach einem Grund zu glauben, dass unser Leben eine „Bedeutung von außen“ hat.2 Sie wünschen sich eine Verbindung zu etwas, das über ihr reines Vergnügen und Wohlbefinden hinausgeht, eine weitergehende Bedeutung. Nagel hält das für eine überhöhte Erwartung. Warum sollen wir uns quälen?
Trotzdem tun wir es. Fragt man Menschen, ob sie über den Sinn des Lebens nachdenken, antworten weltweit ungefähr drei Viertel mit „oft“ oder „manchmal“. Die regionalen Unterschiede sind klein und bewegen sich zwischen 89 Prozent in Schwarzafrika und 76 Prozent in Asien.3 Und die Sinnfrage scheint nicht abzunehmen. Martin Heidegger überzeugt mit dem Gedanken in Sein und Zeit4, dass Menschen sich von anderen Lebewesen durch die Fähigkeit unterscheiden, ihre eigene Existenz infrage zu stellen. Für sie sind nicht nur Einzelfragen problematisch, sondern die Existenz als solche.
Aber was meinen wir eigentlich, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen? Das Wort „Sinn“5 kann zwei Nuancen haben, die sich überschneiden. Die erste hat mit Ziel, Zweck zu tun und meint die Intention („Welchen Sinn hat es, sich jetzt noch anzustrengen?“); die zweite mit der Bedeutung: Etwas hat einen bestimmten Sinn, wenn es etwas Bestimmtes meint [„Welcher Sinn steckt in diesen Worten?“].
Wenn Menschen sagen, dass sich ihr Leben sinnlos anfühlt, muss das also nicht heißen, dass sie keine gute Arbeitsstelle haben, keine Familie und Freunde und alles, um ein angenehmes Leben zu haben. Doch sie sind sich nicht sicher, wofür sie das alles machen. Anders gesagt, sie sind unsicher, ob all ihr Tun und Ringen wirklich eine Bedeutung hat, ob es irgendetwas bewirkt oder vollbringt.
Einen Sinn im Leben zu haben heißt also, von einem übergreifenden Sinn zu wissen und die Sicherheit zu haben, dass man etwas bewirkt, weil man einem guten Ziel dient, das über einen selbst hinausgeht.
Das psychologische Bedürfnis danach ist unbestreitbar. Der Arzt und Autor Atul Gawande erzählt von einem Arzt, der in einem Pflegeheim arbeitet und den Geschäftsführer überzeugen konnte, Hunde, Katzen, Wellensittiche, Kaninchen und sogar Legehennen anzuschaffen, um die sich die Bewohner kümmern sollten. Die Wirkung war erheblich: „Die Bewohner erwachten neu zum Leben. Einige, von denen wir geglaubt hatten, dass sie nicht mehr sprechen konnten, fingen an zu sprechen … Bewohner, die sich völlig zurückgezogen hatten und nicht mehr laufen konnten, kamen zur Pflegestation und sagten: ‚Ich nehme den Hund und mache einen Spaziergang.‘ Alle Wellensittiche wurden adoptiert und bekamen Namen.“6 Die Einnahme von Psychopharmaka sank signifikant um 38 Prozent und die Todesfälle um 15 Prozent.
Wie war das möglich? Der Architekt dieser Veränderungen glaubt, „dass der Unterschied in der Todesrate auf das fundamentale menschliche Bedürfnis nach einem Grund zum Weiterleben zurückgeführt werden kann.“7 „Einfach nur existieren – sicher untergebracht und ernährt zu werden – erscheint uns leer und sinnlos. Was brauchen wir, damit sich das Leben bedeutsam anfühlt? … Wir alle suchen einen Grund, der außerhalb unserer selbst liegt.“8