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Vorgefundener Sinn ist rational besser begründet als selbst erfundener

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Es mag seltsam klingen, dass christlicher Glaube bezüglich der Sinnfrage rational besser begründet sein soll. Doch ich meine die Verbindung eines solchen Sinnes mit der praktischen Ebene im Leben.

Thomas Nagel stimmt in seinem Essay „The Absurd“ zu, dass man die Frage nach dem Wozu beantworten können muss, wenn Tätigkeiten wie Arbeit und Geldverdienen als sinnvoll empfunden werden sollen. Wofür das Ganze? Wir merken, dass wir das, was wir tun, mit „etwas Größerem als uns selbst“ in Verbindung bringen müssen. – Wozu soll ich gesund bleiben? Damit ich Arbeit finde. – Aber wozu soll ich arbeiten? Damit ich Geld verdienen und für meine Familie sorgen kann; oder um Jobs zu schaffen und für soziale Projekte zu spenden, die Armut verringern.30

Doch das Problem ist, dass die Frage immer wiederkommt. Wir können immer weiter fragen, wofür wir denn etwas tun. Welchen Unterschied macht es? Und je weiter wir in der Kette kommen, desto schwieriger werden die Antworten. Wenn Ihr Sinn beispielsweise an Beziehungen hängt: Nun – Menschen sterben.31 Wenn Sie an die zukünftigen Generationen denken oder den Planeten retten wollen – auch das wird alles vorübergehen. Wir haben Sinn im Leben als „etwas bewirken“ definiert, doch das Universum gibt dem säkularen Standpunkt eine letzte Antwort: Nichts hat letztlich Bestand. Nagel schreibt:

Selbst wenn Sie ein großes literarisches Werk verfassen, das noch nach Tausenden von Jahren gelesen wird, so wird doch irgendwann das Sonnensystem abkühlen oder das Universum kollabieren und jede Spur Ihrer Mühe vergehen … Das Problem ist, dass es zwar Begründungen für die meisten großen und kleinen Dinge gibt, die wir im Leben tun, aber keine dieser Erklärungen das Leben als Ganzes erklärt … Es wäre egal, wenn es Sie nie gegeben hätte. Und nach Ihrem Ableben wird es egal sein, dass es Sie gegeben hat.32

Wenn dieses Leben alles ist und es keinen Gott oder ein Leben über diese Welt hinaus gibt, dann ist es letztlich egal, ob Sie ein völkermordender Verrückter sind oder ein Altruist; ob Sie den Hunger in Afrika bekämpfen oder unglaublich brutal und habgierig sind und die Armen verhungern lassen. Am Ende wird Ihr Leben nichts bewirkt haben. Ein paar Menschen werden für eine kurze Zeit auf dem Planeten glücklicher oder trauriger sein, aber darüber hinaus wird Ihr Einfluss – ob gut oder schlecht – wohl ziemlich belanglos sein, wenn man das große Ganze betrachtet. Alles, was Sie getan haben, und jeder, mit dem Sie es zu tun hatten, wird für immer tot sein. Letztlich ist all unser Tun völlig unbedeutend. Nichts zählt für immer.

Nun sagen viele in der Postmoderne, dass man diese „Metafrage“ über den Sinn des Lebens an sich nicht stellen solle. Wir sollten uns darin üben, nicht über den Ausgang unseres Tuns nachzudenken – in säkularer Sicht das pure Nichts. Wir sollten uns das aus dem Kopf streichen und uns auf heute konzentrieren. Doch damit bestätigen sie meinen ersten Punkt: Wenn sie ein sinnerfülltes Leben führen wollen, müssen sie die Disziplin aufbringen, nicht über das große Ganze nachzudenken. Sie müssen das, was ihnen ihr Verstand sagt, von dem trennen, was sie emotional erleben. Das Gefühl für Sinnhaftigkeit entsteht also nur durch das Unterdrücken von Denken und Reflexion – also durch einen Mangel an Rationalität.

Oliver Wendell Holmes Jr., der große Richter am Supreme Court, schrieb einmal einem Freund, dass ein moderner Mensch, wenn er „kühl denkt“, eigentlich zugeben müsste, dass es „keinen Grund gibt, einem Menschen eine Bedeutung zuzusprechen, die über die eines Pavians oder eines Sandkorns hinausgeht“. Er meinte, dass in einer streng zu Ende gedachten rein materialistischen Weltsicht Menschen keinerlei Bedeutung haben. Doch dann fügte er hinzu, dass es, wenn solche Gedanken kämen, an der Zeit ist, „in den Keller zu gehen und Patience zu legen“. Niemand mit solch einem Denkgebäude kann Frieden und Sinn im Alltag finden, wenn er nicht aufhört, über die Folgerungen nachzudenken.33

Das Problem ist, dass es schwer ist, die Gedanken zu lassen, und dass das große Bild immer wieder in uns aufbricht. In Meine Beichte erzählt Leo Tolstoi, wie er sehr erfolgreich war, bis ihm mit etwa 50 Jahren bewusst wurde, dass jeder Mensch, den er liebte, ihm wieder genommen würde und alles, was er geschrieben hatte, irgendwann vergessen wäre. Angesichts dessen „war die Frage: Warum sollte ich leben, warum irgendetwas wünschen oder tun? … Hat mein Leben irgendeinen Sinn, den der unausweichliche Tod, der mich erwartet, nicht zerstören kann?“ Er fragte auch: „Wie kann man das nur übersehen? … Das ist das Überraschende! Man kann nur leben, solange man vom Leben berauscht ist; sobald man nüchtern wird, ist es nicht mehr zu übersehen, dass es alles purer, dummer Betrug ist!“34 Er war „ausgenüchtert“ und dachte nun rational (oder „kühl“, wie Holmes es nannte). So konnte er nicht mehr weiter Romane schreiben und seine Familie lieben, weil ihm bewusst geworden war, dass ihm ein objektiver, bleibender Sinn fehlte. Er konnte nicht zu seinem vor-reflektierten Zustand zurück.

C. S. Lewis beschreibt das gleiche Problem, das Tolstoi hatte, mit der zusätzlichen Farbe des modernen Glaubens an die Evolutionsbiologie:

Sie können beschließen, das Leben einfach zu genießen, so gut es geht. Das Universum ist nun einmal sinnlos, aber wenn Sie schon einmal da sind, dann wollen Sie nehmen, was Sie können. Nur gibt es leider unter diesen Umständen so schrecklich wenig zu nehmen … Sie können nicht (außer im niedrigsten, triebhaften Sinn) ein Mädchen lieben, wenn Sie wissen (und sich immer vergegenwärtigen), daß all seine Schönheit, die des Körpers ebenso wie der Seele, weiter nichts ist als ein durch den Zusammenstoß von Atomen zufällig erzeugtes Augenblicksmuster und Ihre eigene Reaktion darauf lediglich eine durch das Verhalten Ihrer Gene bedingte Art psychischen Widerscheins. Sie können keine echte Freude mehr an der Musik empfinden, wenn Sie wissen und immer daran denken müssen, daß ihre Bedeutung reine Illusion ist, daß sie Ihnen nur deshalb gefällt, weil Ihr Nervensystem ohne vernünftigen Grund konditioniert ist, sie schön zu finden. Sie können – im primitivsten Sinn – ‚das Leben genießen‘; aber gerade dann, wenn es wirklich gut wird, gerade dann werden Sie die hoffnungslose Diskrepanz zwischen Ihren eigenen Gefühlen und dem Universum, in dem Sie tatsächlich leben, unweigerlich zu spüren bekommen.“35

Im Gegensatz dazu weisen Sinn und Ziel des Lebens für einen Christen in die entgegengesetzte Richtung. Christen müssen sich nicht sagen: „Denk nicht darüber nach, was dein Glaube letztlich bedeutet. Versuch einfach, den Tag zu genießen!“ Wenn ein gläubiger Mensch sich niedergeschlagen und sinnlos fühlt, dann ist er gewissermaßen nicht rational genug: Er denkt nicht genug darüber nach, was das, was er bezüglich des Universums glaubt, für ihn bedeutet.

Christen glauben, dass es einen Gott gibt, der uns in Liebe geschaffen hat, damit wir ihn kennen, doch dass die Menschheit sich abgewandt hat und für ihn verloren war. Aber er hat versprochen, uns zu ihm zurückzubringen. Gott sandte seinen Sohn in die Welt, um die Macht der Sünde und des Todes zu brechen. Sein Preis war unermesslich; er ging ans Kreuz. Christen lehren, dass Jesus vom Tod auferstand, in den Himmel auffuhr und nun über die Geschichte herrscht und eine zukünftige neue Welt ohne Tod und Leid vorbereitet, in der wir für immer mit ihm leben werden. Dann werden alle unsere tiefsten Sehnsüchte erfüllt werden.

Wenn Sie diese Punkte glauben (wer Sie für Gott sind und was er für Sie bereithält) und trotzdem keinen Frieden und keine Sinnhaftigkeit erleben, dann kann man sagen, dass Sie nicht genug nachdenken. Es gibt einen oberflächlichen, kurzzeitigen Frieden, den moderne Menschen daraus ziehen können, dass sie nicht genug über ihre Situation nachdenken. Aber der christliche Glaube kann gerade tiefen Frieden und Sinn geben, wenn man nachdenkt und sich seinen Glauben so bewusst macht wie nur möglich.

Wenn Sie glauben, dass es im Leben keinen Sinn zu entdecken gibt und man ihn sich nur selbst erschaffen kann, und dann wirklich global denken (dass nichts, was Sie tun, am Ende einen Unterschied machen wird), dann werden Sie das Grauen, die Nausea (Übelkeit) der modernen Denker erleben. Aber das müssen Sie natürlich nicht. Sie können es wie die meisten Menschen in der säkularen Gesellschaft heute machen und diese Gedanken aus Ihrem Kopf streichen. Aber das ist eben kein besonders rationaler Zugang zu einem Sinn im Leben.

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