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Vorgefundener Sinn ist dauerhafter und belastbarer als selbst erfundener

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Selbst geschaffener Sinn ist also weniger rational und auch weniger gemeinschaftlich als vorgefundener, entdeckter Sinn. Außerdem ist er weniger belastbar; er trägt einen nicht so gut durch Leiden und Widrigkeiten.

Säkulares Denken ist die einzige Weltanschauung, deren Anhänger ihren Hauptsinn innerhalb dieses Lebens finden sollen. Alle anderen Zugänge zur Welt behaupten, dass „dieses Leben nicht alles“ ist. Deshalb haben alle vorherigen Religionen und Kulturen in Leid und Tod einen Weg finden können, etwas zu bekräftigen, das über dieses Leben hinausgeht.46 Doch wenn säkular denkende Menschen ihren Sinn bestimmen, müssen sie ihn um etwas herum bauen, das sich innerhalb dieser physischen Welt befindet. Vielleicht leben Sie für Ihre Familie, Ihre Karriere oder ein politisches Anliegen. Damit Ihr Leben einen Sinn hat, muss also alles gut laufen. Aber wenn Leid dazwischenkommt, kann es Ihren Lebenssinn frontal angreifen und zerstören. Der säkulare Sinnansatz kann Sie extrem verletzbar machen angesichts des realen Laufes des Lebens.

Viktor Frankl war jüdischer Arzt und überlebte das KZ. In seinem berühmten Buch Trotzdem Ja zum Leben sagen untersuchte er, warum manche Menschen unter solch furchtbaren Bedingungen stark zu bleiben schienen, während andere einfach aufgaben oder sogar zu Kollaborateuren wurden, um zu überleben.47 Sein Ergebnis war, dass es etwas mit der Sinnfrage zu tun hatte. Viele hatten beruflichen Erfolg, sozialen Status oder Familie zu ihrem Lebenssinn gemacht. All dies war ihnen im KZ vollständig genommen worden. Einige brachen psychisch und geistig zusammen und starben oft an schlichtem „Sich-selbst-Aufgeben“.48 Es gab andere, „die in diesem Kampf um die Lebenserhaltung skrupellos waren und auch vor Gewalttätigkeit, ja sogar nicht einmal vor Kameradschaftsdiebstahl zurückschreckten“49, sie brachen also moralisch zusammen. Diejenigen, die nicht zusammenbrachen, hatten oft einen anderen Bezugspunkt, der über die Umstände dieses Lebens hinausging: „Der neu hinzugekommene Lagerinsasse wird oft … von der Lebendigkeit und Tiefe religiösen Empfindens überrascht sein.“50 Eine Frau im KZ sagte: „In meinem früheren … Leben war ich zu verwöhnt und mit meinen geistigen Ambitionen war es mir wohl nicht ganz ernst.“51 Wenn Frankl mit ihnen sprach, um ihrem Leid „Sinn“ und „Würde“ zuzusprechen, sagte er: „Auf jeden von uns … [sieht] in diesen schweren Stunden … irgendjemand herab, ein Freund oder eine Frau, ein Lebender oder ein Toter – oder ein Gott. Und er erwarte[t] von uns, dass wir ihn nicht enttäuschen.“52

Frankl entdeckte, dass der einzige Weg für die Häftlinge, ihre Menschlichkeit zu bewahren, in einem Bezugspunkt außerhalb dieses Lebens und gar außerhalb dieser Welt lag, auf den sie ihren wesentlichen Lebenssinn verlagerten. Alle Religionen und Kulturen tun dies, nur die säkulare Gesellschaft nicht. Der Sinn im Leben mag darin liegen, dem Kreislauf der Reinkarnation zu entfliehen, um in die ewige Seligkeit einzugehen, oder der Illusion der Welt zu entkommen, um mit der All-Seele des Universums zu verschmelzen, oder bei seinen Vorfahren zu liegen, nachdem man ein ehrenhaftes Leben in Treue zu seiner Familie gelebt hat. Oder, wie im christlichen Glauben, wie Jesus Christus zu werden und mit Gott und Menschen für immer in Liebe und Herrlichkeit zu leben. Keines dieser Szenarien kann durch die Widrigkeiten des Lebens zerstört werden. Wenn also Ihr Lebenssinn etwa darin liegt, Gott zu kennen, ihm zu gefallen, wie er zu werden und bei ihm zu sein, dann kann Leid Ihren Lebenssinn sogar verstärken, weil es Sie Gott näher bringen kann.

Anthropologen haben festgestellt, dass alle nicht-säkularen Kulturen ihren Angehörigen etwas an die Hand geben, um an Leid innerlich zu wachsen. Sie sehen in ihm einen Sinn und eine Hilfe auf dem Weg zum höchsten Ziel, ohne es zu begrüßen. Nur die säkulare Kultur sieht Leiden als sinnloses Unglück und Unterbrechung oder gar Zerstörung dessen, wofür wir leben. So macht unsere Gesellschaft es schwer, voll in den Blick zu nehmen, dass alles Leben gut ist, auch inmitten von Schwierigkeiten.53

Camus sah unseren größten Wunsch darin, unsere liebevollen Beziehungen nicht zu verlieren. Das Wissen um unseren bevorstehenden Tod nimmt die Liebe und macht das Leben damit sinnlos. Viele finden Camus zu düster, doch je älter man wird, desto mehr empfindet man die Wucht seiner Worte. Wenn Sie wirklich glauben, dass der Tod das Ende der Liebe ist, dann wollen Sie darüber nicht zu viel nachdenken, wenn Sie älter werden. Doch wenn Sie glauben, dass der Tod eigentlich der Eintritt in größere, nicht endende Liebesbeziehungen ist, dann wird es durch die Reflexion nur leichter, der Zukunft entgegenzusehen.

Die westlichen Gesellschaften sind wohl in der ganzen Geschichte am schlechtesten darin, Menschen auf Leid und Tod vorzubereiten. Denn selbst erschaffener Sinn ist nicht nur weniger rational und gemeinschaftlich, sondern auch weniger belastbar und dauerhaft.54

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