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Die Sinnkrise

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Heidegger sagt, dass Menschen die einzigen Lebewesen sind, die sich die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen. Doch früher trieb diese Frage die Menschen noch nicht so sehr um wie uns heute. Die Schriftsteller und Denker des 20. Jahrhunderts machten im Zentrum ihrer Kultur ein neues Sinnlosigkeitsloch aus. Sie sprachen von existenzieller Angst und Verzweiflung, von Absurdität und Nausea (Übelkeit).

In Tschechows Theaterstück Drei Schwestern9 sagt Mascha, dass Leben einen Sinn haben muss, und fügt hinzu: „Ich denke, man sollte Glauben haben oder suchen, sonst ist das Leben leer, leer … Du musst wissen, wofür du lebst, sonst ist alles sinnlos und umsonst.“

In Franz Kafkas Der Prozess wird ein Mann von einer gesichtslosen Bürokratie für ein Verbrechen angeklagt, das nie benannt wird. Josef K. fragt: „[Was ist] der Sinn dieser großen Organisation …? … Wie ließe sich bei dieser Sinnlosigkeit des Ganzen die schlimmste Korruption der Beamtenschaft vermeiden?“10 Jean-Paul Sartre schreibt in Sein und Nichtsein: „Der Mensch ist eine nutzlose Leidenschaft.“11

Albert Camus wurde berühmt mit seiner absurden Darstellung des Lebens in Der Mythos des Sisyphos: „Das Absurde entsteht aus dieser Gegenüberstellung des bedürftigen Menschen und der Welt, die vernunftwidrig schweigt.“12 Wir wollen einen Sinn in den Dingen finden, aber das Universum spielt nicht mit. Wir sind alle wie Sisyphos im griechischen Mythos, der den Felsen den Berg hinaufrollt, nur um dann zu sehen, wie er unvermeidlich wieder nach unten rollt. Wir möchten den Menschen, die wir lieben, Gutes tun, doch nichts bleibt, weder unsere Taten noch die Menschen. Für Camus ist der Tod kein Tor zu einem anderen Leben, sondern eine „geschlossene Tür“. Unsere größten Hoffnungen werden von ihm enttäuscht („frustriert“) werden.13

Unausweichlicher Tod macht das Leben absurd. Camus schreibt: „Wir wünschen, dass die Liebe dauert, und wissen, dass sie nicht dauert; sollte sie wunderbarerweise ein ganzes Leben andauern, so wäre sie immer noch unvollendet …“14 Selbst der unbeugsame Philosoph Bertrand Russell meinte, dass die säkulare Sicht, dass alle menschliche Arbeit, Liebe und Klugheit „für die Auslöschung im gewaltigen Tod des Sonnensystems bestimmt sind“, zur „starren Verzweiflung“ der Seele führt.15

Doch gegen diese Krise, die von Künstlern und Philosophen im späten 19. und im 20. Jahrhundert empfunden wurde, wehren sich viele im 21. Jahrhundert. Säkulare Kosmopoliten schrecken zusammen bei der Phrase „Sinn des Lebens“, so wie sie es bei „Gott, Vaterland, Mutter und Apfelkuchen tun würden“. Der Literaturkritiker Terry Eagleton stellt fest: „Im pragmatischen, pfiffigen Klima des fortgeschrittenen, postmodernen Kapitalismus mit seiner Skepsis gegenüber großen Bildern und Erzählungen (Narrativen) … ist ‚Leben‘ nun eine der diskreditierten Totalitäten … Selbst ‚Sinn‘ wird für postmoderne Denker zum verdächtigen Begriff … Er setzt voraus, dass etwas für andere Dinge stehen kann, und das scheint manchen passé.“16 Wenn die Welt tatsächlich gleichgültig und bedeutungslos ist, warum sollte man denken, dass es anders sein müsste?

Auch Nagel meint, dass man das Leben als absurd erlebt, wenn man diese Erwartung hat, dass es einen Sinn geben müsste. Doch wenn man aufhöre, deswegen gegen die Welt zu wettern, würde das Gefühl der Angst und Absurdität verschwinden. Leben sei nur sinnlos, wenn man darauf bestehe, dass es einen Sinn haben müsse.17 Es gibt einige, die meinen, dass man „nur frei sein kann, wenn man mit der ganzen Vorstellung von ‚tiefer‘ Bedeutung bricht, die uns immer dazu verleiten wird, die Chimäre des ultimativen Sinnes zu jagen“18.

Inwiefern könnte der Verzicht auf Sinn und Bedeutung befreiend sein? Dass das Leben selbst einen Sinn hat, legt einen moralischen Maßstab „richtigen Lebens und Seins“ nahe, an den wir uns alle halten sollen. Das würde heißen, dass es nur einen richtigen Weg gibt, und das wäre der Verlust unserer Freiheit, selbst zu bestimmen, wie wir leben wollen. Wenn es den Sinn des Lebens gibt, dann steht es uns nicht frei, diesen Sinn selbst zu kreieren. So schrieb der Harvard-Wissenschaftler Stephen Jay Gould, dass die Tatsache, dass es einfach keinen Sinn im Leben gibt, „letztlich befreiend ist, auch wenn sie oberflächlich betrachtet beunruhigend, geradezu erschreckend sein kann … Wir müssen diese Antworten für uns selbst gestalten.“19

Insofern ist es befreiend, nicht an den einen, großen Sinn zu glauben. In der Moderne trauerten wir um den Verlust dieses Sinnes, doch in der Postmoderne20, einem Zeitalter der Freiheit, verabschieden wir uns erleichtert von dem Gedanken, dass es ihn geben müsste.

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