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Gott und postmoderne Bedeutung
ОглавлениеTrotz der Warnungen von Fargo klingen viele säkulare Denker und Schriftsteller ziemlich ähnlich wie John Hanley sr. von Lifespring. Jerry Coyne, Universitätsprofessor in Chicago, schreibt ähnlich wie Stephen Jay Gould:
Die Kosmologie bringt kein I-Tüpfelchen eines Beleges für einen Sinn … oder für Gott. Säkulare sehen ein Weltall ohne … Zweck und Ziel und stellen fest, dass wir uns unsere eigenen Ziele und ethischen Maßstäbe schmieden müssen … Aber wenn auch das Universum ziellos ist, unser Leben ist es nicht … Wir schaffen unsere eigenen Ziele und sie sind real.“25
Postmoderne Kultur versteht jeden Anspruch auf den einen Sinn allen Lebens als Form von Unfreiheit. Niemand (und gewiss keine religiöse Institution) hat das Recht, uns zu sagen, wie wir leben sollen. Wie Coyne sagt, kommen wir dahin, dass wir uns unseren Sinn selbst schmieden. Die Welt und die Menschheit haben keine Bestimmung, aber das befreit uns, uns selbst einen Sinn zu kreieren.
In einem Blog („Macht Atheismus das Leben sinnlos?“) erklärt ein säkularer Autor, dass er seinen christlichen Glauben abgelegt hat:
Es stimmt, dass ich keinen absoluten Sinn im Leben habe – ich widme mich nicht mehr der ‚Verherrlichung Gottes‘. Aber ich finde es spannend, mir meine eigene Bestimmung zu schaffen. Ich bin Autor eines Romans und das Buch ist mein Leben. Die Freiheit ist inspirierend … Das Leben ist so glücklich und sinnvoll, wie du es machst.26
Ist es das? Ich habe zwei Fragen an Menschen mit dieser bemerkenswert sonnigen Einstellung gegenüber einem sinnlosen Universum. Ist dies eine überzeugende, stimmige Position? Und funktioniert sie im realen Leben?
Sehen wir uns zuerst die Stimmigkeit an. Terry Eagleton schreibt, dass die Postmoderne mit der Ablehnung aller absoluten Werte und inhärenter Bedeutungen im Namen der Freiheit „insgeheim etwas Absolutes in die Argumentation hineinschmuggelt“.27 Warum ist etwa die Freiheit so entscheidend? Warum ist sie das absolute, unhinterfragte „Gute“ – und wer bestimmt das? Setzt man damit nicht einen werthaften Maßstab an, mit dem man alle anderen Zugänge zum Leben kritisiert? Und gibt man damit nicht letztlich eine universelle Antwort auf die Sinnfrage, nämlich dass der Sinn im Leben ist, die Freiheit zu haben, seinen eigenen Sinn zu bestimmen? Und macht man damit nicht letztlich genau das, was man selbst ablehnt?
Der postmoderne Ansatz ist also nicht sehr stimmig. Funktioniert er trotzdem auf praktischer Ebene? Eagleton sieht auch auf dieser Ebene Mängel und hält den Ansatz, dass „Leben das ist, was ich aus ihm mache“, für „erschreckend narzisstisch. Kommen wir jemals aus unseren Köpfen heraus? Ist ein echter Sinn nicht etwas, gegen das wir anlaufen und der uns auch zurückstoßen kann? … Muss das Leben hierbei nicht selbst ein Wörtchen mitreden können?“28 Er fragt sich, ob wir wirklich etwas im Leben nehmen und selbst einen Sinn darum herum „konstruieren“ können. Seine Antwort lautet: „Niemand glaubt das wirklich.“ Man kann beispielsweise mit aller Macht versuchen, Tiger als harmlose Schmusetiere zu „lesen“, doch dann wird man nicht mehr da sein, um davon erzählen zu können, weil die Welt bis zu einem gewissen Grad „unabhängig von unseren Interpretationen ist“.29
Ich kannte einmal einen jungen Mann, der weit kleiner und leichter als der Durchschnitt war. Trotzdem wollte er Football spielen. Er war ständig verletzt, weil die anderen Spieler viel größer als der Durchschnitt waren. Seine Eltern wollten ihm die Sportart ausreden, doch er erinnerte sie daran, dass seine Lehrer ihm sein Leben lang beigebracht hatten, dass er absolut alles im Leben sein könne, was er wolle, und dass Leben das war, was er daraus machte. „Habt ihr nicht den Film Rudy gesehen?“ Irgendjemand hätte ihm freundlich, aber bestimmt Eagletons Beispiel nahebringen sollen. Das Leben ist nicht einfach das, was man daraus macht. Oft ist es das, was es ist. Wir sind nicht völlig frei, ihm unsere Ziele aufzudrängen. Wir sollten das Leben anerkennen, indem wir Sinn und Ziele entdecken, die zu der Welt passen, wie sie ist.
Ist ein Sinn im Leben also ohne Gott praktisch möglich? Der gesellschaftliche Diskurs ist voller lauter religiöser Stimmen, die darauf bestehen, dass das Leben ohne Gott unausweichlich sinnlos, trostlos und nicht lebbar ist. Auf der anderen Seite beharren eine Menge säkularer Menschen darauf, dass sie nicht nur zufriedenstellenden Sinn im Leben haben, sondern auch eine Form von Freiheit, die religiöse Menschen nicht kennen.
Wer hat recht? Können wir ohne Glauben an Gott überhaupt einen Sinn im Leben haben? Um beiden Seiten gerecht zu werden, antworte ich mit Ja und Nein. Ich sage Ja, weil nach unserer Definition und nach der gelebten Erfahrung säkulare Menschen gewiss einen Lebenssinn kennen können. Wir haben „Sinn“ als Ziel/Zweck und die Gewissheit definiert, einem höheren Gut zu dienen. Wenn Sie entscheiden, dass Ihr Lebenssinn ist, gute Eltern zu sein, einem wichtigen politischen Anliegen zu dienen, benachteiligte Jugendliche zu begleiten oder große Literatur zu genießen und zu fördern, dann haben Sie per Definition einen Sinn im Leben. Sehr viele säkulare Menschen leben so, ohne so gequält und düster zu sein wie Camus. Man kann in den gewöhnlichen Aufgaben gut einen tiefen Sinn finden, ohne Antworten auf die großen Existenzfragen zu haben.
Aber ich sage auch Nein. Säkulare Menschen wollen oft den bedeutsamen Unterschied zwischen „inhärentem“ und „zugedachtem“ Sinn nicht sehen. Traditioneller Glaube war die Grundlage für vorgefundenen, objektiven Sinn, der einfach da ist, egal was wir empfinden oder interpretieren. Wenn Gott uns zu einem bestimmten Zweck geschaffen hat, dann gibt es inhärente Zielbestimmungen, die wir annehmen sollen.
Die Sinnzuschreibungen des säkularen Menschen sind nicht „vorgefunden“, sondern von ihm selbst geschaffen. Sie sind nicht objektiv da, sondern subjektiv und völlig abhängig von seinen Gefühlen. Sie können sich darauf festlegen, für politische Veränderung oder eine glückliche Familie zu leben, und diese Ziele können enorme Energien freisetzen. Doch ich meine, dass solche selbst gesteckten Ziele sehr viel fragiler sind als vorgefundene. Sinn, den man gefunden hat (weil er schon da war), ist rationaler, gemeinschaftlicher und belastbarer als ein selbst erschaffener, erfundener Sinn.