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Vorgefundener Sinn ist gemeinschaftlicher als selbst erfundener

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Bis zur Moderne waren unsere wesentlichen Sinnquellen – Religion, Familie und Kunst – eng miteinander verbunden und öffentlich. Es galt als verpönt oder gar unmöglich, als Individuum selbst einen eigenen Sinn im Leben zu finden.36 1908 suchte der Harvard-Philosoph Josiah Royce in seinem Buch The Philosophy of Loyalty nach einer Antwort auf die Frage, warum Menschen einen Sinn brauchen. Warum war es nicht genug, einfach zu arbeiten, essen, schlafen und den Alltag zu leben? Seine Antwort lautete, dass Menschen nicht ohne Einsatz für etwas Höheres als ihre individuellen Interessen leben können. Sie brauchen einen Grund, für den man bereit ist, sich wirklich aufzuopfern. Er glaubte, dass wir nur glücklich werden, wenn unser Ziel im Leben größer ist als unser eigenes Glück.37

Deshalb glaubte Royce, dass man nur dann einen Sinn im Leben finden könne, wenn man den Individualismus zurückweist: „Der Individualist stellt das eigene Interesse an die erste Stelle und sieht in seinem eigenen Mühen, Vergnügen und Dasein sein größtes Anliegen.“ Moderne Individualisten verstehen Loyalität und Hingabe als alarmierenden Fehler, der einen der Ausbeutung und Tyrannei aussetzt. Für sie „gibt es nichts Wichtigeres als das eigene Interesse und weil man nach dem Tod nicht mehr da ist, ist das eigene Opfer sinnlos.“38

Nun sind Tyrannei und Zwangsherrschaft sicherlich ein großes Übel. Aber nach Royce war Individualismus der falsche Weg, um sie zu überwinden. Wenn jeder seinen eigenen Sinn im Leben sucht, teilen wir weniger Werte und Ziele. Dadurch werden die Solidarität und die öffentlichen Institutionen ausgehöhlt, was zu unlösbarer Polarisierung und Fragmentierung in der Gesellschaft führt. Außerdem untergräbt laut Royce ausgerechnet der Individualismus das individuelle Glück. Wir brauchen „Hingabe an mehr als uns selbst, damit unser Leben erträglich wird. Ohne dies haben wir nur noch unsere Wünsche und Triebe, die uns leiten, und die sind flüchtig, launisch und unstillbar.“39

In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts sah Royce schon die Erosion gemeinsamer, gefundener Sinnbestimmung kommen, die individuell kreierten Bestimmungen Platz macht. Charles Taylor, der in den letzten Jahren des Jahrhunderts lehrte, konnte den Sieg des modernen Individualismus sehen und formulierte den aktuellen kulturellen Konsens so: „Jeder hat das Recht, seine eigene Lebensform zu entwickeln, die in seiner eigenen Vorstellung vom wirklich Wichtigen oder Wertvollen gründet … Niemand anders darf oder soll seinen Inhalt vorschreiben.“40 Taylor sagt, dass individuelle Sinnbestimmung zwangsläufig zu einem „milden Relativismus“ führt, weil niemand die Werte und Ziele eines anderen infrage stellen darf, was seinerseits zu „außerordentlicher Sprachlosigkeit“ über unsere gesellschaftlichen Ideale führt.41

Wir mögen z. B. glauben, dass es falsch ist, wenn Arme hungern müssen, aber in einer Kultur selbst erfundener Sinnbestimmungen können wir nicht sagen, warum. Ihr Lebenssinn mag sein, Bedürftigen zu helfen, aber meiner kann sein, reich zu werden, indem ich andere ausbeute. Wie wollen Sie mir erklären, dass meine Entscheidung falsch ist? Ohne mir zu sagen, was ich anstreben sollte? Auf welcher Grundlage?

Taylor schreibt, dass heute anders als früher „moralische Positionen keineswegs mit Logik oder dem Wesen der Dinge begründet sind, sondern letztlich von jedem bloß übernommen werden, weil wir uns von ihnen angezogen fühlen“.42 Das heißt, dass man sich mit jemandem, der nicht die gleichen inneren Gefühle hat wie man selbst, nicht verständigen kann. Es gibt keine gemeinsame Autorität, die über moralische Streitfragen entscheiden könnte, denn jeder ist ja frei, seine eigenen Werte zu bestimmen.

Vielleicht antworten Sie: „Ja, Sie sind frei, aber nicht, um Ihre Freiheit zum Schaden anderer zu nutzen.“ Doch wir können nicht definieren, was „Schaden“ wirklich ist, wenn wir nicht vorher festlegen, was ein gutes Leben ausmacht. Es gibt viele Vorstellungen – welche soll allen anderen aufgedrückt werden? Und wie kann man dies im Einklang mit der Überzeugung tun, dass wir alle unsere eigenen Vorstellungen von einem guten Leben entwickeln sollen?

Letztlich können Sie jemandem, der anders über Arme denkt und „immer noch empfindet, dass er an seiner alten Position festhalten will, nichts weiter sagen, um ihm zu widersprechen“.43 Ohne gemeinschaftlichen (vor)gefundenen Sinn haben wir keine Grundlage, um jemandem zu sagen: „Hör auf damit!“ Selbst erschaffener Sinn kann keine Grundlage für soziale Gerechtigkeit sein. Martin Luther King sagte weißen Christen in den Südstaaten nicht, dass sie die Bürgerrechte unterstützen sollten, weil jeder frei ist, so zu leben, wie es ihm passt. In seiner Rede „I have a dream“ zitierte er Amos 5,24; die Gerechtigkeit, die auf das Volk herabströmt.

Terry Eagleton stellt fest, dass der gängige säkulare Vorschlag, sich seine eigenen Sinnbestimmungen zu schaffen, verdächtig nach spätmodernem, kapitalistischem Konsumdenken klingt: „Kapitalistische Moderne“ macht alles zu einer privaten Ware; Dinge, die man früher gemeinschaftlich organisierte und verrichtete – von der Kindererziehung bis hin zu einem Gebets- und Lobpreiskonzert –, werden nun als private Entscheidungen betrachtet, die man messen, in Geld beziffern und konsumieren kann, ganz nach seinem Geschmack und seinen Gewohnheiten.44 „Die Sinnfrage lag nun in den Händen von … Ingenieuren gelenkter Zufriedenheit und Chiropraktikern der Psyche.“45

Ironischerweise dürften nun gerade diejenigen, die sich für besonders frei halten (weil sie ihren eigenen Sinn im Leben festlegen), stärker in der individualistischen Konsumkultur gefangen sein, als sie meinen.

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