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Zurück zu den Geschichten vom Glaubensverlust

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Wir haben also gesehen, dass Menschen den Glauben an Gott nicht aus rein rationalen Erwägungen annehmen oder ablehnen, weil dies gar nicht möglich ist. Außerdem haben wir festgestellt, dass moralische Werte immer auch auf Glaubensüberzeugungen gründen, hinter denen unsere kulturelle Geschichte steht. Können wir nun besser verstehen, was passiert, wenn Menschen ihren Glauben verlieren?

David Sessions ist ein junger Akademiker, der sich früher als evangelikaler Christ sah und sich dann vom Glauben verabschiedete. In einem Blog69 schreibt er von seiner Lektüre von Taylors Ein säkulares Zeitalter und gibt dessen These wieder, dass „zahlreiche Geschichten vom Glaubensverlust dem vertrauten Weg eines ernsthaften Gläubigen folgen, der sich mit den wissenschaftlichen Realitäten abquält und zu dem Schluss kommt, dass er erwachsen werden und seine kindlichen religiösen Illusionen aufgeben muss“. Auch er hätte seine Geschichte zu einem gewissen Zeitpunkt ähnlich erzählt.

Er beschreibt seine Erziehung als fundamentalistisch: „Darwinismus war ein Schwindel, Kolumbus ein von Gott geschickter Missionar für die Wilden, die Gründer Amerikas nahmen die Bibel wörtlich und die liberalen Eliten arbeiteten an der Einheits-Weltregierung.“ Als er „die Kraft alternativer Antworten auf die tiefsten Fragen in Filmen und Romanen, Geschichtsbüchern, Anthropologie und Naturwissenschaften“ kennenlernte, wurde er zum „von Fakten überwältigten Materialisten“.

Doch inzwischen gibt er zu, dass „rationale Argumente zwar eine wichtige Rolle dabei spielten“, seinen Glauben „zu untergraben“, aber nicht alles waren. Sessions ergreift für Polanyi und andere Partei gegen die naive Sicht von der Vernunft, die so viele säkulare Menschen übernehmen, um ihren Abschied vom Glauben zu rechtfertigen: „Unser Umfeld, das bestimmt, was uns einleuchtet, verschiebt sich und liefert uns theoretische Gründe für unsere Sinnesänderung.“ Sein Umzug von einer konservativen Kleinstadt nach New York City „zerschlug viele der Stereotypen, Vorurteile und Annahmen, die das Umfeld ausgemacht hatten, in dem mein Glaube sinnvoll gewesen war“.

Wie wir gesehen haben, wird die Glaubwürdigkeit einer Denkrichtung nicht nur streng logisch bestimmt, sondern auch durch unsere unbewussten, kaum wahrgenommenen ergänzenden Überzeugungen. Wenn Menschen mit dem christlichen Glauben in Berührung kommen, stehen die eigentlichen Lehren vor einem Hintergrund anderer implizierter Überzeugungen, Haltungen und Erwartungen, etwa darüber, wie Nichtgläubige sind, wie das Leben für einen wahren Gläubigen verlaufen sollte und wie sich Sünde und Verletzung von Regeln anfühlen sollten. Diese Hintergrundüberzeugungen werden eingebracht und werden zu einem wichtigen Bestandteil des Stützgeflechts, das das Christentum sinnvoll erscheinen lässt. Wenn sie verschwinden, wird der Glaube an die ausdrücklichen Lehren ihnen folgen.

Jemand geht beispielsweise davon aus, dass das Leben einem von Gott geliebten Christen nicht unbegrenzt übel mitspielt. Dieser Gedanke ist nicht formaler Bestandteil christlicher Lehre. Das Leben Jesu, des leidenden Dieners, widerspricht ihm sogar. Doch er scheint aus manchen christlichen Texten und Lehren zu folgen und lässt sich aus den Haltungen anderer Teilnehmer einer Gemeinschaft schließen. Wenn dann das Leben des Gläubigen durch schlimme Schicksalsschläge erschüttert wird und diese unbewussten Überzeugungen ins Wanken geraten, können alle anderen Glaubenslehren genauso wenig überzeugend scheinen.

Vielen Christen wurde auch weisgemacht, dass alle Nichtgläubigen selbstbezogener, skrupelloser und unglücklicher sind als die Gläubigen. Doch was, wenn ein Gläubiger mit Menschen in Kontakt kommt, die gute Einstellungen haben, altruistisch, ehrlich, engagiert und gleichzeitig völlig säkular sind? Wenn die Hintergrundüberzeugung widerlegt ist, wirken auch die Überzeugungen im Vordergrund weniger zwingend. Oder was, wenn ein junger Mensch mit der Lehre, dass außerehelicher Sex Sünde ist, auch noch den Gedanken angenommen hat, dass sich demnach jede Erfahrung mit vorehelichem Sex leer und unerfüllt anfühlen müsste? Was, wenn er stattdessen die Erfahrung macht, dass er sich dabei wunderbar und lebendig fühlt? Wenn sich die Hintergrundüberzeugung durch die eigene Erfahrung als falsch erweist, untergräbt das die Plausibilität der gesamten christlichen Sexualethik. Diese „Vorverständnis“-Überzeugungen sind nicht Bestandteil des historischen christlichen Glaubens, sondern Teil von Polanyis subsidiary awareness, deren Verlust zum kompletten Glaubensverlust führen kann, wenn er nicht reflektiert wird.

Als Sessions von seinen früheren Überzeugungen abzuweichen begann, warfen ihm einige christliche Freunde vor, dass sein säkulares Umfeld ihn beeinflusste und er „cool“ werden wollte. Er konterte, dass sein Glaubensverlust striktes „Ergebnis ernsthaften Lesens und guter, solider intellektueller Argumente“ sei. Doch inzwischen erkennt er an, dass etwas die Veränderung befeuerte, das wichtiger war als Argumente, nämlich „der veränderte Sinn dafür, welche Art von Person ich werden wollte“. Seine Erfahrung verschob sich und damit viele seiner intuitiven Überzeugungen. Das machte ihn offen für neue intellektuelle Argumente.

Heute ist er bereit, die Hinwendung zum säkularen Materialismus als Annahme „einer neuen, mehr oder weniger genauso auf Glauben beruhenden Geschichte“ zu bezeichnen, die „die erklärende Kraft der alten Geschichte ausblendet … Was hier passierte, war nicht die Beugung einer moralischen Einstellung vor reinen Fakten, sondern der Austausch einer moralischen Einstellung durch eine andere.“ Er gibt Nietzsche recht, dass sich seine humanistische Moral nicht wirklich aus seiner Weltanschauung ergibt: „Im liberalen Humanismus gibt es genauso viele Werturteile wie in dessen Mutterreligion. Viele, die an den Punkt des Unglaubens kommen, nehmen sie gerne an, obwohl sie die [ihrer Meinung nach] gleiche Unbegründbarkeit am Christentum beanstanden … Es ist witzig, wie wenig meine jetzigen Werte mit dem Materialismus zu tun haben, der mich überzeugt hatte. Nichts an individueller Freiheit, Menschenrechten oder zivilisatorischem Fortschritt folgt automatisch aus dem Fakt, dass Gott tot ist.“

Sessions schließt mit der Aufforderung an säkular denkende Menschen, sich der Tatsache bewusster zu sein, dass ihr Standpunkt eine Deutung der Wirklichkeit ist und nicht einfach ihre einzige objektive, faktische Darstellung. „Man muss nicht religiös bleiben, um den potenziellen Schaden einzugestehen, den der Mangel an Bewusstsein mancher säkularer Deutungssysteme der Welt mit sich bringt, und um religiösen Glauben mit Respekt und freundlicher Bescheidenheit als ein Deutungssystem anzusehen, das ebenso plausibel sein kann wie unser eigenes. Und mit dem man sich eingehend beschäftigen sollte … wegen seiner entscheidenden Einsichten über das Menschsein.“ Dann mahnt er die Christen, ebenfalls größere Demut zu zeigen, ihren Triumphalismus fahren zu lassen und den Gedanken aufzugeben, durch rein rationale Beweise und Argumente gewinnen zu können: „Wenn ihr eure Religion aus diesem Abgrund [schädlicher Rationalität] herausholen könnt, lässt sich kaum sagen, welch mächtiger Gegenstrom sie werden könnte!“70

Ich hoffe, dass meine säkularer eingestellten Leser sehen können, dass weder Säkularismus noch Christentum die Hauptbeweislast tragen. Westlich-säkulares Denken ist nicht die Abwesenheit von Glauben, sondern ein neues Glaubenssystem über die Welt.71 Diese Glaubenssätze können nicht bewiesen werden, sind für die meisten Menschen auf der Welt nicht selbstverständlich und bringen (wie andere religiöse Glaubensrichtungen auch) ihre eigenen Widersprüche und Probleme mit sich, wie wir noch sehen werden. Deswegen gibt es auch im Säkularismus unterschiedliche „Denominationen“.72

Ein wichtiges Problem ist der Widerspruch zwischen den humanistischen Werten und dem Glauben an ein materialistisches Weltall. Das andere behandelte Problem ist die rigide, vereinfachte Sicht vom rationalen Denken, auf die viele säkulare Menschen ihren Nichtglauben stützen und dabei übersehen, dass es verschiedene, umstrittene Ansätze zur Rationalität gibt und alle auch den Einsatz von Glauben erfordern.

Empirische Vernunft kann weder die Existenz einer übernatürlichen Wirklichkeit belegen noch das Gegenteil. Das heißt nicht, dass man solche philosophischen oder religiösen Aussagen nicht bewerten kann, aber es geht nicht mit zwingenden, demonstrierbaren Beweisen. Blaise Pascal bringt dies in seinen Pensées gut auf den Punkt: „Wir sind unfähig, Beweise zu liefern, das kann der ganze Dogmatismus nicht widerlegen. – Wir haben [aber auch] eine Vorstellung von der Wahrheit, die der ganze Pyrrhonismus [Skeptizismus] nicht widerlegen kann.“73

Anstatt unfair zu sein und nur religiöse Menschen dazu aufzufordern, ihre Ansichten zu beweisen, sollten wir religiöse Ansätze und ihre Belege mit säkularen Ansätzen vergleichen. Wir können darüber diskutieren, welche Überzeugungen zu dem passen, was wir in der Welt sehen und erleben. Wir können und sollen über die innere, logische Stimmigkeit von Glaubenssystemen diskutieren und nach inneren Widersprüchen fragen. Und wir können und sollen unsere intuitiven Ahnungen einbeziehen.

Das ist mein Ziel für die nächsten Kapitel. Ich will aufzeigen, dass der christliche Glaube in jeder Hinsicht am meisten Sinn ergibt – emotional und kulturell wie auch rational.74 In diesem Prozess möchte ich Ihnen zeigen, dass das Christentum weit mehr zu bieten hat, um das Leben zu verstehen, zu bestehen und zu genießen, als Sie bis jetzt vielleicht gedacht haben.

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