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13. Liv, nachts

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Frieda sprang auf das Menschenknäuel zu, bellte und fletschte die Zähne.

»Liv! Ich bin es. Himmel! Pfeif den Hund zurück!«

Tim krabbelte rückwärts in Richtung Tür und schlug sie dabei versehentlich zu. Halb liegend schob er sich an die Wand und versuchte, auf seine Unterarme zu kommen. Frieda baute sich mit weit hochgezogenen Lefzen über ihm auf. Tim erstarrte. Speichel tropfte auf seine Hose.

»Frieda, ist gut. Lass ihn. Aus.«

Liv war mit einem Schlag fast wieder nüchtern. Sie hatte sich so erschreckt, dass eine Welle Adrenalin den Alkohol überrollte. Die Hündin ging einige Schritte rückwärts, heftete aber den Blick weiter auf Tim.

»Kerl, hast du mich erschreckt! Bist du wahnsinnig?«

»Ich hatte nur kurz mein Ohr an der Tür, um zu horchen, ob du noch auf dem Zimmer bist.«

»Woher weißt du meine Zimmernummer?«

»Ich habe dich vorhin reingehen sehen. Meins ist vorne an der Ecke.«

Tim rappelte sich in eine sitzende Position mit dem Rücken an der Tür und wischte über seine Hose. Er fing an zu lachen.

»Ich dachte, dieser Hund reißt mich gleich in Stücke. Sie hat vor lauter Vorfreude auf einen Mitternachtssnack schon gesabbert. Bäh!«

»Frieda, Decke.«

Liv zeigte auf Friedas Platz, und sie trollte sich. Schwer atmend ließ sich Liv neben Tim auf dem Boden nieder und lehnte sich an die Wand.

»Was gibt es denn noch? Ich bin betrunken, mir ist schwindelig. Schon deswegen werde ich nicht so gern nachts überfallen.«

Tim wandte sich zu ihr, strich ihr über die Wange und versuchte ungeschickt, Liv zu küssen. Ein neuer Cocktail aus Adrenalin und etwas anderem jagte durch ihre Adern. Sie drehte den Kopf weg. Frieda knurrte leise.

»Tim, nicht. Lass das lieber.«

»Ich träume da schon den ganzen Abend von. Seit ich dich vorhin mit diesem gefährlichen Hund habe dastehen sehen, wollte ich dir die Kleider vom Leib reißen.«

Er griff nach ihrem Kinn und hielt es fest. Stöhnend drückte er seinen Mund auf ihren. Für einen Moment ließ Liv ihn gewähren und öffnete die Lippen. Sofort drängte sich seine Zunge dazwischen. Sein Kuss war langsam, aber fest und unnachgiebig. Wie ein Opa, der mit seinem Passat rückwärts über einen Einkaufswagen fuhr. Was wäre so falsch daran, einfach weiterzumachen? Sie musste niemandem Rechenschaft ablegen.

Stopp! Was tat sie da? Sie war doch kein Teenager mehr, der hinter der Bushaltestelle rumknutschte. Liv machte sich los und atmete tief durch. Frieda blieb auf der Decke liegen, aber ihre Flanken vibrierten. Mit einem Blick und einer Geste beruhigte Liv den Hund.

»Falsche Zeit, falscher Ort, alles falsch.«

»Es gibt einen anderen«, seufzte Tim und ließ sich wieder gegen die Tür fallen.

»Das sagst ausgerechnet du? War da nicht was mit Kindern, die sich vorm SEK erschrecken?«

»Falscher Zeit, falscher Ort, alles falsch«, murmelte Tim.

»Ich weiß das bei mir noch nicht genau«, antwortete Liv, die beschloss, ihn mit seinen privaten Problemen für den Moment davonkommen zu lassen.

»Was soll das denn heißen?«

»Es gibt jemanden, aber es ist kompliziert.«

»Ist es das nicht immer?« Tim schüttelte den Kopf.

Liv hatte den Verdacht, dass er dabei eher an seine eigene Situation dachte.

»Er ist Polizist.«

»Okay, das ist kompliziert.«

»Wir sind kein Paar.«

»Wie auch? Wenn sich ausgerechnet jemand aus dem Machtgefüge die widerborstige, unabhängige Liv aussucht. Das kann nicht gutgehen.«

Manchmal vergaß Liv, dass Tim sie schon seit einer Zeit kannte, als ihr ein Stundenplan für Erwachsene schon vorgekommen war wie ein unzulässiger Eingriff in ihre Freiheit. Vermutlich war es genau das, was ihn immer gereizt hatte. Warum sonst war damals der Zauber so schnell verflogen? Die unerreichbare, kühle Liv verknallte sich in den Frauenschwarm. Die Hirschkuh war erlegt, die Jagd vorbei. Im Falschverlieben war es ihr nicht anders ergangen als Esther, die sich in den Spaßvogel der Schule, in Jörn, verliebt hatte. Nur dass Jörn davon kaum Notiz genommen hatte. Es war ihm schlicht egal gewesen.

»Denkst du manchmal an die Nacht in Wien?«, fragte Liv.

»Erst seit der Einladung von Esther wieder. Das war wirklich eine wilde Party.«

»Und dieser Heurige! Bäh. Wie eine Mischung aus Essig und Spiritus.«

»Hast du danach jemals wieder jungen Wein getrunken?«

»Nie!«

»Dann kann ich es dir ja verraten. Essig stimmt schon, aber Spiritus war ein nachträglich hinzugefügter Bestandteil.«

»Was soll das heißen?«

»Sperr mal acht junge Männer für eine Woche in ein Zimmer mit Etagenbetten. Die hecken komische Sachen aus.«

»Was habt ihr getan?«

»Jörn und Norman sind die Nacht davor rausgeschlichen und haben an einer Tankstelle zwei Flaschen Korn gekauft.«

»Und die musstet Ihr dann allen in den Wein kippen? Seid Ihr total bescheuert gewesen?«

»Nicht allen. Nur den Frauen.«

Liv schlug die Hände vors Gesicht, als sie an das wilde Geknutsche und Brustgegrapsche im Bus dachte. Als hätten alle unter Drogen gestanden. Selbst Klaus hatte versucht, Liv zu küssen. Aber da war Tim eingeschritten und hatte ihm irgendwas ins Ohr geflüstert, das Klaus hatte innehalten lassen. Allerdings begleitet von einem dreckigen Lachen und einem bedauernden Blick auf ihre Brüste.

»Was hattest du vor?«

»Mit dir schlafen, was sonst?«

»Und das konntest du nur erreichen, indem du mich mit Schnaps abgefüllt hast?«

»Vermutlich nicht. Aber so war es am einfachsten. Sicher hätten wir außerhalb der Weiterbildung mal Essen gehen können, tiefgreifende Gespräche führen und Gemeinsamkeiten entdecken. Zwischen uns hatte es doch schon eine Weile geknistert, und das war der letzte Schubs. Deswegen hatte ich dich auch vor allen anderen in Sicherheit gebracht.«

»In Sicherheit? Wir hatten Sex im Park!«

»Ja, aber nur wir beide. Britt hatte es nicht so gut getroffen.«

Liv durchzuckte ein tiefes Schamgefühl, als sie daran dachte, wie Tim und sie lachend aus dem Park zurückgekommen waren und durch die Fenster der Jugendherberge geschielt hatten. Norman hatte Britt auf den Tisch in der Mitte des Zimmers gelegt und ihr die Hose runtergezogen. Seine Hose hing zwischen den Knöcheln, und sein weißer Hintern leuchtete im Dunkeln beim Zustoßen.

»Meinst du, sie hat davon irgendwas mitbekommen?«, fragte Liv.

»Vielleicht nur beim ersten Mal. Und hoffentlich nur bei Norman.«

»Nur bei Norman? Was soll das denn heißen?«

»Die Jungs haben sich in der Nacht gebrüstet, wer wie oft bei ihr gekommen ist.«

»Ihr seid solche verdammten Idioten gewesen! Klaus hat vorhin doch noch gesagt, dass er sich kaum an die Nacht erinnert hat und früh im Bett war.«

»Das stimmt. Norman hat damals danach gesagt, Klaus war der Tisch zu unbequem.«

»Ich war Zeugin einer Gruppenvergewaltigung? Ist es das, was du mir hier Jahre später mitteilst?«

Liv rückte von Tim weg. Das durfte doch nicht wahr sein! Jahrelang hatte sie sich eingeredet, dass es einfach nur eine wilde Party gewesen war. Sie schämte sich, dass sie nie genauer nachgefragt hatte.

»Mir reicht es für heute. Bitte geh.«

»Na toll. Hätte ich dir das bloß nicht erzählt.«

»Doch, das war okay. Und es war wichtig. Ich muss das nur erst mal verarbeiten.«

Tim rappelte sich hoch. Liv war von der Tür zum Bett gekrochen und saß ans Fußteil gelehnt. Frieda lag auf ihrem Beobachtungsposten, jederzeit bereit, wieder einzugreifen.

Unschlüssig blieb Tim in der Tür stehen.

»Gute Nacht, Tim.«

»Dann gehe ich wohl besser. Schlaf gut.«

Liv atmete tief durch. Aufgewühlt und stocknüchtern wusste sie nicht wohin mit ihrer nervösen Energie. Wäre sie bloß nie zu diesem Klassentreffen gekommen. Dann hätte sie ahnungslos und ohne Scham weiterleben können. Sie hatte betrunken über eine hilflose Frau gelacht, die von mehreren Männern die ganze Nacht vergewaltigt worden war! Die Dimension des neuen Wissens raubte ihr den Atem. Sie rappelte sich hoch, schnappte sich Wasserflasche und Notebook und hockte sich aufs Bett. Wo war Britt heute? Wie war es ihr ergangen? Bitte, lieber Gott, oder wie immer du auch heißt, zeig sie mir auf Facebook oder irgendwo im Internet, wo sie mit ihren Kindern und ihrem Mann lachend Kuchen backt. Ich will Fotos sehen. Ausgelassen, zufriedene Bilder. Mach, dass sie ein glückliches Leben führt und ihren Weg gefunden hat.

Liv durchstöberte die Datenbanken. Sie musste nicht lange suchen. Als sie die ersten Informationen fand, zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Tränen schossen ihr in die Augen und tropften auf die Tastatur.

Vergangen

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