Читать книгу Vergangen - Tina Voß - Страница 7
2. Liv, vormittags
ОглавлениеFrieda knurrte. Es war nicht das kompromisslose Geräusch, das tief aus ihrem Inneren kam. Es war eher die leise Art Knurren, die sie anstimmte, wenn sie wusste, dass Liv ein Bellen missbilligen würde. Ein Brummen, das sich kaum vom Klappern und Stimmengewirr des Cafés absetzte. Den Mann am Nachbartisch schien das nicht zu beeindrucken. Er hatte die Zeitung sinken lassen und betrachtete die Dobermannhündin mit einem neugierigen Funkeln in den Augen. Frieda setzte sich auf, alle Aufmerksamkeit auf den Fremden konzentriert. Liv streifte den Tischnachbarn mit einem desinteressierten Blick, vergaß ihn wieder und scrollte durch eine endlose Folge unbearbeiteter E-Mails im Posteingang. Irgendetwas war ihr in den letzten Wochen durchgerutscht. Eine Einladung? Ein wichtiger Termin, den sie im Chaos und den Nachwehen der Ereignisse aus Kiew vergessen hatte? Die Betreffzeilen scannend, wusste sie, dass die Lösung zum Greifen nah vor ihr waberte, sich ihr aber immer wieder entzog. Es war, als wollte man mit bloßen Händen Fische fangen.
So kam sie nicht weiter. Besser, sie sorgte für ein wenig Ablenkung. Daher öffnete sie die nächstbeste E-Mail, die Angebote eines Immobilienportals. Vor einigen Tagen hatte sie einen Suchauftrag eingestellt, um die anonyme Festung ihrer Wohnung im Herzen Frankfurts gegen etwas Schönes im Umland zu tauschen. Die Zeit, in der ein Panikraum und eine Alarmanlage zu den Grundbedingungen einer Behausung gehörten, neigte sich dem Ende zu. Hoffentlich. Mit jedem Tag fühlte sich Liv stärker und unabhängiger als zu ihrer Anfangszeit in der anonymen Stadt. Zu der Zeit, als sie nur unsichtbar sein wollte.
Frieda bellte.
Liv zuckte zusammen und verschüttete Wasser auf ihren Rechner.
»Frieda, aus!«
Fluchend hob Liv das Notebook hoch, drehte es seitlich und tupfte mit der Serviette auf der Tastatur herum. Am Tisch gegenüber saß ein typischer Frankfurter Anzugträger, mittelgroß, mittelalt, randlose Brille, und betrachtete unverwandt ihre Hündin. Nicht unfreundlich, nicht ängstlich, eher neugierig. Frieda knurrte mit geschlossener Schnauze, rührte sich aber nicht von der Stelle.
»Entschuldigung. Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Liv den Fremden, der Frieda zunehmend aus der Fassung brachte. »Wenn sie das Tier noch weiter anstarren, wird es übrigens nicht besser.«
»Oh, Verzeihung. Das wollte ich nicht.«
Er ließ den Blick zwischen ihr und dem Hund hin und her wandern. Jetzt, da Frieda die Stimme des Mannes gehört hatte und er das Anstarren einstellte, verstummte sie.
»Ich bin seit Magnum ein Dobermann-Fan und war mir nicht sicher, ob das hier einer ist. Der sieht irgendwie anders aus.«
»Sie, kein er.«
»Oh, ist der Unterschied zwischen Männchen und Weibchen so groß? Ich dachte, dass sowas eher bei Enten eine Rolle spielt.«
Liv lachte los. »Nein, das ist es nicht. Aber früher wurden den Tieren die Ohren und der Schwanz abgeschnitten. So sahen sie gefährlicher aus. Zum Glück ist das jetzt anders.«
Liv streichelte Frieda über den Kopf und fasste ihr an die kaschmirweichen Ohren.
»Darf ich sie streicheln?«
»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun.«
»Wieso?«
»Gefährlich sind sie immer noch.«
Der Fremde zog die Hand zurück. Liv genoss die Plauderei im Café. Früher wäre sie schon bei Friedas Knurren zusammengezuckt und hätte panisch die Umgebung nach Bedrohungen abgesucht. Jetzt war sie lediglich verärgert, weil sie einen Schwung Wasser über ihre Tastatur gekippt hatte. Die Angst hatte sich in den letzten Wochen und Monaten verflüchtigt wie Morgennebel. Heute war es für sie einfach nur ein fremder Mann, der ähnliche Erinnerungen an eine amerikanische Fernsehserie mit zwei Dobermännern und einem Schnauzbart teilte. Die Aktentasche schulternd, nickte der Fremde ihr lächelnd zu und verließ das Café.
Zufrieden nahm Liv den letzten Schluck Kaffee aus ihrer Tasse und suchte nach der E-Mail, die bereits einige Wochen auf Antwort wartete. Als sie das Schreiben erhalten hatte, hatte sie an einem der aufwühlendsten Artikel ihres Lebens gearbeitet, und die Einladung war ihr vorgekommen wie eine Nachricht aus einer fernen Galaxie. Die Welt hatte sich unbeeindruckt weitergedreht, während Liv in einem Strudel aus Menschenversuchen, Zwangsprostitution und Morden versank.
Erst spät hatte sie sich klargemacht, dass ihr Leben in höchster Gefahr gewesen war. Wochenlang war sie danach von Albträumen aufgewacht. Was Menschen sich aus Profitgier antun können, erschütterte sie noch immer. Es war ihr aber gelungen, nahezu alle Beteiligten zu enttarnen, und mit dem Aufdecken des großen Geheimnisses zerbrach der kleine Kreis des Bösen. Für Liv fühlte sich das an wie eine Befreiung. Sie hatte sich aus der Deckung gewagt und am Ende gesiegt.
Liv fand die E-Mail und erinnerte sich, wie sie beim Eintreffen der Einladung in letzter Minute ihren Artikel verschickt hatte.
»Hallo Liv,
viel Zeit ist vergangen. Hast du nicht Lust, dass wir, die eingeschworene Clique von damals, uns mal wieder treffen? Lass uns trinken, über alte Zeiten plaudern und schauen, was uns die neuen gebracht haben. Ich bin zufällig für einige Tage in Deutschland und würde es schön finden, euch zu sehen ...«
Danach folgte eine kurze Namensliste, und Liv lächelte, als sie Tim dort entdeckte. Himmel! An den hatte sie lange nicht gedacht. Und das Treffen sollte schon morgen stattfinden. Damals waren sie ein bunter Haufen aus ehemaligen Zeitsoldaten, Sachbearbeitern und vielen anderen artverwandten Berufen gewesen, der sich in Betriebswirtschaft weiterbildete.
Nach dem Abschluss wurde Liv zur Expertin der Redaktion für alle Wirtschaftsthemen. Mike, ihr langjähriger Mentor und Chefredakteur, setzte sie ab da bevorzugt bei Firmenreportagen und Bilanzpressekonferenzen ein. Wenn man erstmal verstand, wie Firmen Gelder in Bilanzen versteckten und durch komplizierte Konstrukte Beteiligungen verschleierten, war Wirtschaft höchst spannend.
Weiter vorne im Posteingang wartete die Bestätigung des Klassentreffens. Alle hatten zugesagt, nur sie nicht. Liv griff nach ihrem Telefon und wählte Mikes Nummer, um zu horchen, ob es etwas Dringendes gab. Obwohl sie von ihm Freizeit und Erholung verordnet bekommen hatte, rief sie ihn unregelmäßig an. Eine diffuse Angst, dass die Enthüllung des Jahrhunderts an ihr vorbeigehen könnte, wenn sie keinen Kontakt hielt, ließ sie zum Telefon greifen.
»Dietzmann.«
»Hallo Mike, ich bin es. Liv.«
»Du bist früh auf. Solltest du nicht in einer Art Urlaub sein?«
»Bin ich. Frieda und ich sitzen entspannt in einem Café in der Innenstadt und erschrecken Passanten.«
»Was macht die Wohnungssuche?«
»Die verstopft mir mein Postfach.«
»Sehr gut. Ich bräuchte vielleicht jemanden für die Jahreshauptversammlung einer Firma, die das Innenleben von Windeln herstellt. Hast du Lust?«
»Auf keinen Fall!«
»Das wollte ich hören. Entspann dich weiter und sei auch ein wenig stolz. Das vergisst du manchmal.«
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, hielt Liv unentschlossen ihr Telefon in der Hand. Auf dem Weg zum Klassentreffen nach Hamburg kam sie an Hannover vorbei. Oliver, ihre Kurzzeitaffäre, kam ihr in den Sinn. Sollte sie ihn anrufen?
Kopfschüttelnd steckte sie ihr Telefon in die Tasche. Auf keinen Fall würde sie ihm nachlaufen. Eindeutig war da etwas zwischen ihnen, aber das Bild stellte sich nie ganz scharf. Vielleicht waren Gefühle, die in extremen Situationen aufpoppten, auch schlicht nicht belastbar. Oliver nahm ihr nach wie vor übel, dass sie sich trotz seiner Warnungen in Lebensgefahr gebracht hatte. Andersrum konnte sie ihm nicht verzeihen, dass er sie zeitweise für eine Mörderin gehalten hatte. Und das, nachdem sie miteinander im Bett gelandet waren.
Bei ihren immer selteneren Treffen hatten sie das Thema rund um die Ermittlungen ausgeklammert und sich nie richtig ausgesprochen. Hatte das unterschwellig die gegenseitige Anziehung vergiftet? Liv war ratlos, konnte aber auch nicht aus ihrer Haut. Wenn er sie nicht als Ganzes akzeptieren wollte, war es schwer, einen Schritt weiter zu denken. Wie sollte das auch gehen? Ein Polizist und eine Journalistin? Das war wie Staatsanwalt und Strafverteidiger. Beide mussten zwangsläufig konträre Sichtweisen auf die Welt haben.
Liv hasste diese Institutionen und die Macht, die sie hatten. Der tödliche Unfall ihrer Eltern und der Freispruch des eindeutig betrunkenen Fahrers, eines bekannten Politikers, hatten ihr Leben bereits als Achtjährige so fundamental verändert, dass sie sich schwertat, Dinge ohne Hinterfragen hinzunehmen. Sie stand sich dabei selbst im Weg, fand aber auch keine Möglichkeit, es zu ändern.
Sie seufzte. Oliver und ihre gemeinsamen Irrwege mussten noch warten. Jetzt freute sie sich lieber auf ein kleines Klassentreffen und schrieb eine verspätete Zusage.
Liv legte einen Schein neben ihre Kaffeetasse und winkte der Kellnerin.
»Stimmt so, danke. Frieda, Fuß.«